Ausgabe 07 - 2002 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Kurzkultur

verschuldete berliner

Am Beginn steht so gut wie immer eine persönliche Krise. Darin sind sich alle Experten einig, die sich mit dem Phänomen der Privatverschuldung beschäftigen: Verlust des Arbeitsplatzes, Krankheit, Scheidung. Nachdem der 1965 geborene Filmemacher Stefan Hayn vor einigen Jahren mit seinem Film über den Arbeiter eine Reflexion der Unmöglichkeit bzw. Unangemessenheit dokumentarischen Arbeitens vorgelegt hatte, überrascht er nun mit einem Film, der sich diesem Thema annimmt: Schuldnerberichte: Privatverschuldung in Berlin heißt ein Film, den Hayn zusammen mit Anja-Christin Remmert für den Südwestrundfunk produziert hat. Entstanden ist ein Film, der es versteht, die Inszenierung von Pseudo-Authentizität zu umgehen. Remmert und Hayn zerren ihre Protagonisten, u.a. einen Rentner, einen Computerfachmann und einen Spielsüchtigen nicht einfach vor die Kamera und lassen sie erzählen. Auf der Grundlage von Interviews werden diese „Verschuldungskarrieren" vielmehr filmisch inszeniert.

„Schuldberberichte: Privatverschuldung in Berlin" von Stefan Hayn und Anja-Christin Remmert am 6. September um 19 Uhr im Filmkunsthaus Babylon, Rosa-Luxemburg-Str. 30, Mitte, in Anwesenheit des Filmteams. Im Fernsehen wird der Film am 14. November um 23.15 Uhr auf SWR 3 gezeigt.

schwule skinheads

In der Kopenhagener Ausstellung Maskuliniteter/Masculinities schmückte Peter Nansen Scherfig vor kurzem die Wände mit überdimensionalen Darstellungen von Skinheads, um damit auf einen ambivalenten Code aufmerksam zu machen: Das machistische bis martialische Outfit ist mit rechter Gewalt konnotiert, ist andererseits aber in den letzten Jahren von der schwulen Fetischszene adaptiert worden. In Berlin, wo es mittlerweile wohl mehr schwule Skinheads als ihnen zum Verwechseln ähnlich sehende Gewalttäter gibt, ist der 1964 geborene Däne weniger in der Kunst- als in der Homo-Szene bekannt. Seine Bilder von Typen in Skinhead- oder Gummioutfit zieren Flyer, Werbeanzeigen und Anzeigen der Aidshilfe. Seit Anfang August sind im Fetischladen Mister B. Graphiken, Zeichnungen und Wandprojektionen von Scherfig zu sehen. Damit dürfte nicht unbedingt ein allzu kunstsinniges Publikum angesprochen und einer etwas platteren Lesart Vorschub geleistet werden.

Peter Nansen Scherfig bei Mister B. in der Nollendorfstr. 23, Schöneberg, geöffnet Mo bis Fr von 12 bis 20, Sa 11 bis 16 Uhr

musikalische abenteurer

Kurz vor seinem achtzigsten Geburtstag starb vor zehn Jahren John Cage ­ Schönberg-Schüler, Revoluzzer, Pilzesammler und auf seine alten Tage sogar Opernkomponist. Viele von Cages Werken haben selbst nach Jahrzehnten nichts von ihrer Frische verloren; das Schweigestück 4'33'' hat sogar eine gewisse Popularität erlangt; der Musiktheoretiker Heinz-Klaus Metzger geht so weit, in Cages Variations I das Ende der Musikgeschichte zu erblicken. Zum Neunzigsten des Meisters wird im Podewil mit dem Ensemble zeitkratzer gefeiert ­ möglicherweise auch die „Homo-Ehe" zweier Ensemble-Mitglieder. Das finden die Musiker politisch. Denn hätte Cage, so lassen sie mitteilen, seinen Freund Merce Cunningham heiraten können, dann hätte der geerbt und mit seiner Dance Company jetzt weniger Geldprobleme.

„Pour les oiseaux, pour les Cage's. Zum 90. Geburtstag von John Cage", am 5. September ab 18 Uhr im Podewil, Klosterstr. 68-70, Mitte

unheimliche viecher

Die armen Tiere werden es wahrscheinlich erst zu spät merken: Wenn sie Anfang September ihr Winterquartier in der Zitadelle Spandau aufsuchen, erwarten sie dort 15000 Gäste, Reggaemusik und ein Kinderchor aus Saarbrücken. Ob sie wieder kehrtmachen, wenn Umweltminister Jürgen Trittin dann auch noch das Wort ergreift? Der grüne Politiker hat die Schirmherrschaft über das „6. Europäische Fest der Fledermäuse" übernommen, das dort am 7. und 8. September stattfindet. Erwachsene, die die unheimlichen Viecher sehen wollen, zahlen 4,50 Euro, Kinder zahlen 1,50.
www.fledermausfest.de

unangepaßte filmer

Die Gründung des London Film-Maker's Co-operative 1966 war ein Meilenstein in der filmischen Avantgarde. Hier wurde der Versuch gemacht, Filmarbeit, Produktion und Vertrieb in einer Einrichtung zusammenzufassen. Beteiligt an den Attacken gegen Leinwand und Kino waren führende Avantgarde-Filmer wie Peter Gidal, Malcolm LeGrice und John Smith. Was dabei herausgekommen ist, zeigt das Kellerkino Arsenal von 13. bis 19. September.

„Shoot Shoot Shoot. Das erste Jahrzehnt der London Film-Maker's Co-operative & des britischen Avantgarde Films 1966-76", von 13. bis 19. September im Kino Arsenal, Potsdamer Str. 2, Tiergarten

gemalte ddr-frauen

Wer in nächster Zeit einmal in Frankfurt/Oder weilen sollte, kann sich dort die Ausstellung „Frauenbilder aus der DDR" im Museum Junge Kunst im Rathaus zu Gemüte führen. Der Ausstellungsleiter Armin Hauer wählte Porträts, Akte und Gruppendarstellungen von zwölf Künstlerinnen und 36 Künstlern aus der Sammlung des Museums aus. Die Palette der Werke reicht von sehr bekannten DDR-Staatskünstlern wie Bernhard Heisig, Willi Sitte, Wolfgang Mattheuer und Werner Tübke bis hin zu fast in Vergessenheit geratenen Künstlerinnen. Dem Initiator der Ausstellung ging es vor allem um die Sichtbarmachung der künstlerisch überzeugenden Frauenbilder, die nach 1945 ­ beginnend mit den Trümmerfrauendarstellungen ­ unter einer sozialistischen Diktatur und deren admistrativen Kultur- und Kunstpolitik entstanden sind.

„Frauenbilder aus der DDR", noch bis zum 10. November im Museum Junge Kunst im Rathaus Frankfurt/Oder

paul wühr

Wenn die Bekanntheit von Schriftstellern in irgendeinem Verhältnis zu ihrem literarischen Rang stehen würde, der 1927 geborene Paul Wühr wäre um einiges bekannter als, sagen wir, Günter Grass. Zwei voluminöse Gedichtbände, Salve Res Publica (1997) und Venus im Pudel (2000), haben den Rang dieses radikalen Einzelgängers, der konsequent seine „Poetik des Falschen" vertritt, bestätigt. Der Wiener Autor Lucas Cejpek hat bereits 1993 aus Gesprächen mit Wühr das Originaltext-Buch Wenn man mich so reden hört (Droschl Verlag Graz) komponiert ­ ein Text, in dem Biographisches und Poetologisches verwoben sind. Jüngst folgte der zweite Band: Was ich noch vergessen habe. „Konzentriert auf das Unbestimmte", heißt es dort, „auf das radikal Unbestimmte, würde ich sagen, ist die Lyrik. Und immer im Abbruchunternehmen." Lucas Cejpek hat nun im Auftrag des Literaturhauses aus diesem Material eine Theaterfassung erarbeitet.

„Hier spricht Paul Wühr" von Lucas Cejpek, Uraufführung am 6. September um 20 Uhr im Literaturhaus, Fasanenstr. 23, Charlottenburg

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