Ausgabe 07 - 2002 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Wenn Wahlen etwas ändern könnten...

Was haben die Damen und Herren Ulrich Beck, Jürgen Habermas, Inge und Walter Jens, Oskar Negt und Carola Stern gemeinsam? Sie unterschreiben jeden Aufruf, den man ihnen vorlegt. In einem „Für ein zukunftstaugliches Deutschland" überschriebenen Aufruf zeichneten diese Leute jüngst allen Ernstes das Szenario, der Wähler habe am 22. September zu entscheiden zwischen „gefälligem Populismus" und „verantwortbarer Politik". Zwischen dem Populisten Schröder also und dem verantwortungsbewußten Staatsmann Stoiber? Nein, genau umgekehrt. Erst die Regierung Schröder/Fischer habe sich bemüht, „dieses Land zukunftstauglich zu machen", tönen unsere Vorzeige-Intellektuellen. Als Argumente werden angeführt: der Atomausstieg, der so oder so stattÞndet, weil die Industrie kein Interesse mehr an dieser Energieform hat; die Ökosteuer, die am Ende eigentlich niemand überzeugend fand; die halbherzige Neuregelung der Staatsbürgerschaft, die sogar von der FAZ konsequenter gefordert worden war.

Daß Willy Brandt in den sechziger Jahren eine gewisse Anziehungskraft auf Schriftsteller und Intellektuelle ausübte, kann man noch nachvollziehen; auch, daß viele vor vier Jahren Helmut Kohl weghaben wollten ­ und sei es bloß, um ihn nicht mehr täglich im Fernsehen ertragen zu müssen. Die diesjährige Kampagne „Für die Regierung Schröder/Fischer" hingegen mutet nur noch grotesk an.

Es geht allerdings noch absurder: Hannelore Hoger, Jörg Immendorff, Will Quadflieg, Tilman Spengler und Klaus Staeck haben den Aufruf „Den kulturpolitischen Aufbruch fortsetzen!" unterzeichnet. Was damit gemeint ist? Daß neuerdings Naumann und sein Nachfolger Nida-Rümelin durch ihren medialen Aktionismus die funktionierenden föderalistischen Strukturen der Kulturpolitik vom Kanzleramt aus stören? Ein neues kulturpolitisches Klima sei entstanden, heißt es in dem kuriosen Text. Künstler und „kritische Intellektuelle" (gemeint sind wohl die Unterzeichner) mischten sich jetzt wieder ein. Man kann es auch so ausdrücken: Das kulturelle Establishment genießt es, wieder ins Kanzleramt geladen zu werden, nachdem Helmut Kohl bewiesen hatte, daß man auch ganz gut ohne diese Leute regieren kann. Wer erlebt hat, wie die Literaten Peter Schneider und Hans-Christoph Buch vor ein paar Monaten auf der Bühne des Hauses der Berliner Festspiele Gerhard Schröder in den Arsch gekrochen sind, macht sich jedenfalls keine Illusionen mehr über diese kritischen Intellektuellen. Als Indiz für den kulturpolitischen Aufbruch wird in dem Aufruf dann im übrigen noch das Holocaust-Mahnmal genannt, das von Helmut Kohl auf den Weg gebracht worden war.

In Berlin kursiert seit Monaten der Aufkleber „Wählt Germund Schroiber!" Umfragen beweisen, daß Erst- und Jungwähler anscheinend intuitiv verstanden haben, daß Wahlen verboten wären, wenn sie etwas ändern könnten. Im Mehringhof wird indes eine „Aktionswoche gegen die Bundestagswahl" vorbereitet. Geplant sind „Beerdigungszeremonien", in denen Stimmen zu Grabe getragen werden, „Verschönerungen von Wahlwerbung" und eine Demonstration – gegen Schröderstoiber und die Alternativlosigkeit.

hb

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