Ausgabe 07 - 2002 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Rauf und runter, kreuz und quer

Das Leben der Fahrradkuriere

Sie flitzen durch die Straßen Berlins wie Verrückte, springen auf ihren Rädern Bordsteinkanten rauf und runter, fahren kreuz und quer über die Fahrbahn und zeigen keinerlei Respekt vor der Straßenverkehrsordnung. Das Rot der Ampeln scheint auf sie zu wirken wie das wedelnde Tuch des Toreros auf den Stier: mit Volldampf drauf los. Die Fahrradkuriere Berlins bringen einen manchmal ins Grübeln: Was machen die da eigentlich? Und ist das nicht gefährlich?

Bei erster Betrachtung fällt auf, daß Fahrradkuriere ihr Arbeitsmaterial – das Rad – vortrefflich beherrschen. Stehen sie mal an einer Ampel, setzen sie oft den Fuß nicht von der Pedale, sondern balancieren auf ihrem Rad, bis es grün wird. Zudem sind sie schnell, geradezu windig, und kennen das Straßengewirr der Innen- und Außenbezirke mit allen Schleichwegen, Abkürzungen und den meisten Ampelphasen.

Diese Attribute machen Fahrradkuriere seit Ende der Achtziger auch in Berlin für den zügigen Ablauf von Produktionsprozessen unverzichtbar. Von Aalräucherei bis Zylinderstifterei, alle brauchen mal einen Fahrradkurier, der ihr Produkt oder Dokument schnell und zuverlässig von A nach B bringt.

Die Arbeit des Fahrradkuriers ist also wichtig und anspruchsvoll – und scheint auch noch Spaß zu machen. Wer würde nicht gerne fürs Fahrradfahren bezahlt werden? Andererseits fällt die Tätigkeit des Kuriers in die Kategorie der „prekären Beschäftigung". Abgesehen davon, daß Kuriere das ganze Jahr über Wind und Wetter ausgesetzt sind, genießen sie kaum soziale Absicherung. Die Kurierfirmen stellen auf Grund der hohen Lohnnebenkosten keine Fahrer als Angestellte ein. Stattdessen melden die Kuriere ein Gewerbe an und entrichten später auf ihre Einkünfte 16 Prozent Umsatzsteuer. Als de-jure-Selbständige haben sie theoretisch die Freiheit, selbst zu bestimmen, wann und wie lange sie arbeiten. Doch in der Praxis bestehen Reproduktionszwänge, die dem freien Willen vorgehen. Wenn nicht gearbeitet wird, gibt es auch keine Einkünfte. Bezahlten Urlaub gibt es nicht, und selbst kurzfristige Arbeitsunfähigkeit kann zum Existenzproblem werden. Sozialversichern müssen sich Kuriere selber, und auch die für Selbständige hohen Beiträge zur Krankenversicherung müssen erst mal eingefahren werden. Eine Unfallversicherung wäre zwar sinnvoll, aber kaum jemand hat sie. Ähnlich steht es mit Haftpflicht und Rechtsschutz, von Rentenbeiträgen können wir ganz schweigen. Die Frage drängt sich auf, wieso Leute für einen schlecht bezahlten, sozial nicht abgesicherten Job auf Berlins Straßen Kopf und Kragen riskieren.

Zunächst sind da die Freaks, Fahrradfreaks natürlich. Bei ihnen dreht sich alles ums Rad. Ihre Wohnungen ähneln Werkstätten: Überall liegen Fahrradteile rum. Sie bewegen sich immer mit dem Rad fort, egal, ob sie nebenan zum Bäcker wollen, in den Urlaub ans Mittelmeer fahren oder eben arbeiten. Sie lesen die Tour oder Mountainbike, und ihre Gespräche drehen sich meist um Fahrradteile.

Einige Studenten betätigen sich ein paar Tage die Woche als Fahrradkuriere. Das machen sie als Zuverdienst, für die körperliche Fitness, als Ausgleich zur Kopflastigkeit ihres Studentendaseins oder weil es einfach cool ist.

Manche arbeiten als Fahrradkuriere, weil sie gerade nichts anderes haben und nicht aufs Arbeits- oder Sozialamt wollen. Während sie fahren, schicken sie Bewerbungen los. Einige ältere Fahrradkuriere wollten ursprünglich nur zur Überbrückung als Kurier arbeiten und haben dann den Absprung nicht geschafft. Warum? Kurierfahren macht süchtig ­ viele Fahrer bestätigen das. Obwohl man/frau (ja, es gibt auch Kurierinnen) im Grunde immer das gleiche tut ­ mit dem Rad verschiedene Adressen anfahren ­ ist es doch jeden Tag anders. Wenn der Kurier morgens losfährt, weiß er noch nicht, wohin es ihn im Laufe des Tages verschlägt. Manchmal kommt er den ganzen Tag nicht aus der Innenstadt heraus, ein anderes Mal fährt er nach Königs Wusterhausen, Oranienburg oder ergattert eine der beliebten Potsdam-Touren. An manchen Tagen ist soviel los, daß kaum Zeit für ein Pausenbrot bleibt. An anderen treffen sich fünf Fahrer auf einen Kaffee beim Bäcker am Hackeschen Markt. Diese Abwechslung macht die Kuriertätigkeit auch auf Dauer interessant.

Richtig gefährlich ist das Kurierfahren eigentlich nicht. Die Fahrer kennen das Verhalten anderer Verkehrsteilnehmer sehr gut und verhindern vorausschauend die meisten Unfälle. Meistens können sie den unachtsamen Rechtsabbiegern ausweichen, wie auch den sich unerwartet öffnenden Autotüren.

Obwohl Kuriere stets allein durch den Großstadtdschungel hetzen, gibt es auch gemeinsame Aktionen. Auf der Straße grüßen sie sich lässig. Nach der Arbeit sehen sich einige bei den „Asphaltheros", einer Vereinigung der Berliner Fahrradkuriere, die sich um bessere Arbeitsbedingungen bemüht. Sie treffen sich bei Kurierpartys und Kurierrennen, wie dem „Alleycat" oder „global gutz", und Ende August geht es zu den Weltmeisterschaften der Fahrradkuriere nach Kopenhagen.

Sonja John

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