Ausgabe 07 - 2002 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Alles für die höheren Ziele

Es ist mittlerweile einige Zeit her, daß sich die Morgenpost angesichts eines Wahlkampfauftritts des Kanzlerkandidaten Edmund Stoiber zu der großartigen Schlagzeile hinreißen ließ: „Stoiber! Aus der Flasche! In der Disko!" Der bayrische Ministerpräsident hatte sich tags zuvor in das übel beleumundete, von Prominenz jeglicher Art schlimm durchseuchte „90 Grad" in Schöneberg gewagt und ein Bier aus der Flasche getrunken! Hui!, wird sich der Zeitungsleser gedacht haben, was der sich traut! Da bleibt einem tatsächlich nichts, als ehrfürchtig zu stammeln wie die Morgenpost. Stoiber sagte noch, er mache alles mit „für die höheren Ziele". Merkwürdig, daß das Schröder-Wahlkamfteam nicht darauf eingegangen ist: Mit einer „bürgernahen" Aktion anläßlich des Sommerschlußverkaufs hätte auch der Bundeskanzler seine Leidensfähigkeit im Dienst der höheren Ziele unter Beweis stellen können, am nächsten Tag würde die Morgenpost schlagzeilen: „Schröder! Mit fahrigen Händen! Im Wühltisch!" Das hätte gezeigt, wie sehr auch er sich quält, wie er leidet für höheres. Denn selbst wenn man Stoiber nicht glaubt, daß er wirklich alles tun würde, ist es nicht schwer, sich vorzustellen, welch unermeßliche Überwindung der Diskoauftritt ihn kostete. Aber er, Stoiber!, hat es getan: Für die höheren Ziele!

Ich möchte mich nicht mit einem wie Edmund! Stoiber! vergleichen, aber ich kann sagen: Auch ich würde schon so einiges für die höheren Ziele tun. Wir unterscheiden uns lediglich darin, wie wir die „höheren Ziele" definieren. Dr.! Edmund! Stoiber! geht es darum, Bundeskanzler zu werden und dann das tun zu dürfen, was ein Kanzler eben so tut (z. B. Schlagzeilen machen: „Kanzler! Mit Gummistiefeln! Im Hochwasser!"), während es mir um nichts weniger als: das Schöne! das Wahre! das Gute! geht.

„Abbiate! Multivitaminsaft trinkend! In seiner Stammkneipe!" oder „Abbiate! In kurzen Hosen und Netzhemd! Auf offener Straße!" ­ ja, ich wäre bereit, zu solch kühnen, kaum vorstellbaren Taten zu schreiten, so es der Beförderung des Schönen, Wahren und Guten diente. Ich würde rohen Sellerie essen, unter meinem Bett schlafen, in pißgelben Jog-ginganzügen herumlaufen, Tauben füttern, mich von meiner Freundin in den Schwitzkasten nehmen lassen, kurz: ganz unangemessen leiden für die höheren Ziele. (Eines tue ich dafür eh schon: Für den scheinschlag schreiben! Ohne Honorar!) Und all das, ohne mich der beruhigenden, Scham und Vernunft ausblendenden Wirkung einer zünftigen Volltrunkenheit anheimzugeben, versteht sich. Allerdings will ich nicht behaupten, ich täte wirklich alles für die höheren Ziele: Nackt bei „Wetten daß"! Kanister Benzin austrinkend! Dazu Weihnachtslieder trällernd! Das ginge dann doch zu weit.

Eigentlich fällt mir nur eine Person ein, der ich zutraue, daß sie wirklich alles – für welche Ziele auch immer – mitmachen würde: Guido Westerwelle. „Guido! Mit Nudelsalat! Im Haar!" könnte es heißen, wenn er bei einem Kita-Besuch von Kindern mit Essensresten beworfen würde. Guido würde daraufhin fröhlich grinsen, ja, die Anwesenden (und wahrscheinlich auch die Nichtanwesenden) in Grund und Boden grinsen und alles als eine gelungene Inszenierung seiner selbst aussehen lassen. Er bräuchte sich bei solcher Gelegenheit nicht einmal, wie Stoiber bei seiner Diskoheimsuchung, quälen. Guido würde sein enervierendes – vor nichts und niemandem zurückschreckendes – Dauergrinsen wahrscheinlich erst vergehen, wenn er Anlaß böte zu der Schlagzeile: „Westerwelle! Geteert! Gefedert!"

Roland Abbiate

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