Ausgabe 07 - 2002 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Im allgemeinen Interesse

Gestern im Briefkasten: „Im deutschen Interesse: Öffnen Sie die Zukunft." Eine Broschüre der Bundesregierung, die das Zuwanderungsgesetz in den Wahlkampf holt, um der Opposition zuvorzukommen. In schlichten Sätzen erklärt sie, was das „deutsche Interesse" ist – und bestätigt unterschwellig, daß Ausländer dem entgegenstehen. Nur ausnahmsweise und unter strengster Beobachtung dürfen sie in Deutschland leben.

Schon die Drohung der Opposition, mit der Zuwanderungsfrage den Wahlkampf zu durchrassen, hatte durchschlagende Wirkung gehabt: Von dem Gesetzesentwurf, den die Regierung seinerzeit zaghaft zur Diskussion gestellt hatte, blieb kaum etwas übrig. So groß war die Angst vor den Stammtischen, daß man bei den Einbürgerungen vorsorglich selbst hinter den gängigsten europäischen Standards zurückblieb; auch die Genfer Flüchtlingskonvention wird nach wie vor ignoriert. So perfide und kleinlich wie in Deutschland sind die Ausländergesetze sonst nur noch in Österreich. Und dennoch (oder genau deshalb) bleibt die Fremdenangst virulent, und jede Partei kann sie bei Bedarf für den Wahlkampf mobilisieren.

Drei Gruppen erheben Einspruch: Erstens die Wirtschaft, für die der Ausländer ­ wie jeder andere Mensch auch ­ eine Ressource ist. Sie sucht ausländische Fachkräfte, weil in Deutschland die Kinder lieber Kunsthistoriker als Netzwerkadministratoren werden. Die Inder aber gehen ­ wie jeder andere Mensch auch ­ lieber dorthin, wo sie willkommen sind. In Deutschland, daran ändern auch eine paar hundert Greencards nichts, sind sie es nicht ­ höchstens ihre Arbeitskraft.

Da erheben die Moralisten die Stimme: Für sie ist der Ausländer ein armes Würstchen, ein gebeugtes Opfer des Alltagsrassismus. Günter Wallraff verkeidete sich als Türke und beschrieb die Schweinereien, die ihm geschahen. Die Grundhaltung seiner Leser war das schlechte Gewissen ­ was sind wir doch für ein boshaftes Volk! Eine schlechte Voraussetzung für ein gedeihliches Zusammenleben.

Dann sprechen die Romantiker: Sie finden zwar die Deutschen nicht grundsätzlich schlecht, aber doch die Ausländer immer irgendwie besser. Man kann diese Haltung an dem irrsinnigen Erfolg ablesen, den spanische Kneipen, australische Austauschprogramme und chinesische Tai-Chi-Workshops heutzutage haben. Da wird das Deutschsein versteckt und der Ausländer vergöttert, seine Eigenarten werden neidvoll beäugt, seine Fremdheit gilt als kultureller Vorsprung.

Ob man nun solchen Multikulti-Kitsch, die hohe Moral oder das Wirtschaftswachstum zum Ziel hat ­ immer teilt man mit den Deutschtümlern die Prämisse, daß Ausländer „nicht zu uns gehören". Von dieser Vorstellung müssen wir uns verabschieden. Es ist egal, ob wir die Ausländer bewundern oder bemitleiden, beargwöhnen oder als besonders nützlich rühmen. Wir müssen nur einsehen, daß sie dazugehören. Ein demokratisches Gemeinwesen hat eine offene Gesellschaft zu sein, es braucht keine homogene Bevölkerung, keine Kleiderordnung, keine Staatsreligion und auch keine Nationalkultur. Es braucht nur eine gemeinsame Geschäftssprache, mit der man sich ohne pedantische Konjugationsregeln so gut miteinander verständigen kann wie ein Bremer und ein Thüringer auch. Und es braucht das Maß an allgemeiner Rücksichtnahme, das Schily und Beckstein offenbar abgeht.

Einstweilen sind die Ausländer im politischen Leben Deutschlands nur Objekte. Man läßt sie in der Oder ersaufen oder ruft sie an die Hochschulen, verurteilt ihre Religionen oder lobt ihre Anpassungsbereitschaft, erklärt sie zum Stammtischthema oder versucht, sie davor zu beschützen. Sie sind aber auch politische Subjekte ­ ohne Wahlrecht zumeist, aber durchaus mit eigenen Meinungen und dem Recht, sie an die Öffentlichkeit zu bringen. Der scheinschlag möchte dazu beitragen, daß sie auch die Möglichkeit dazu haben. Wir haben keine Angst vor den Stammtischen! Im Gegenteil, wir machen selber einen: Auf der Seite 6 werden von nun an regelmäßig Einwanderer, Kinder von Einwanderern, Aussiedler, Nomaden und Kosmopoliten ihre Sicht der Dinge schildern ­ im allgemeinen Interesse.

Johannes Touché

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