Ausgabe 06 - 2002 berliner stadtzeitung
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Berlin 1902

27. Juni bis 28. August

Zu Hermann Ganswindt, dessen Erfindungen und Verhaftung seinerzeit für viel Aufsehen sorgten, gibt es noch Interessantes zu berichten. Er kam aus Ostpreußen, schon als Junge erfand er den Freilauf, den er „Gesperre" nannte. Er wurde am 12. Juni 1856 zu Voigtshof bei Seeburg geboren und entstammte einer angesehenen Familie. Sein Vater besaß ein großes Mühlenetablissement, in dem er gleichzeitig eine Werkstatt für technische Versuche unterhielt. Der Werdegang scheint dann nur folgerichtig, schon als Gymnasiast äußerte sich Ganswindt zur Raumfahrt und entwarf eine von ihm „Weltenfahrzeug" genannte Rakete, studierte Physik und hielt bereits 1881 einen Vortrag über sein Raumfahrzeug.

Ab 1884 plante er seinen Hubschrauber, der die Rakete in die oberen Luftschichten schleppen sollte, und baute 1888 bis 1890 ein eisernes Modell. In Berlin machte er zum ersten Mal 1888 von sich reden, als er in der Philharmonie eine Reihe von Vorträgen über seine Erfindungen hielt und ein kleines Modell seiner Flugmaschine vorführte, das dann auf Jahrmärkten als Kinderspielzeug unter der Bezeichnung „fliegender Maikäfer" bekannt wurde. Doch er war seiner Zeit zu weit voraus, trotz eines positiven Gutachtens von General von Schlieffen konnte sich der Erfinder mit seinen Projekten nicht durchsetzen und geriet in wirtschaftliche Schwierigkeiten.

1891 lernte er im Alter von 35 Jahren in wenigen Monaten Klavier und reiste mit seinem „Klavierconcert und Experimental-Vortrag über Luftschiffahrt" übers Land. Chopin-Etüden wechselten sich mit der Vorführung seines Hubschraubermodells ab, und Ganswindt glaubte, auf diese Art alle Zweifel an seiner Seriosität zu zerstreuen. Von den Einkünften wurde in Schöneberg ein Grundstück gepachtet, das bei einer Mark Eintritt viele Neugierige anzog. Ein See als Badeanstalt und eine Radfahrbahn um diesen herum sollten ihm Nebeneinnahmen schaffen. Mit einem der Konkurrenz überlegenen Fahrrad mit Freigang und Drahtachsenlager schien sich dann endlich auch der geschäftliche Erfolg einzustellen.

Das lenkbare Luftschiff beschrieb Ganswindt als erster in seiner physikalischen Funktionsweise. Für seine Rakete mit Rückstoßantrieb legte er bereits das später verwirklichte Zwei-Stufen-Prinzip fest. Er schlug vor, die Schwerelosigkeit durch Fliehkraft zu simulieren, auch daß die Zeit als die vierte Dimension aufzufassen sei, war ihm klar. Den Hubschrauber hat er erfunden und dafür das gekrümmte Flügelprofil, selbst eine kleine Hilfsluftschraube an seinem Helikopter hatte er geplant, die das Reaktionsmoment der Tragschraube ausgleichen sollte.

Im Juli 1901 stieg Ganswindts Hubschrauber in Schöneberg erstmals auf, er war damit das erste Motorflugzeug überhaupt in der Geschichte der Menschheit. Ein inzwischen leider verschollener Film darüber von den Gebrüdern Skladanowsky wurde am 5. November 1901 im Wintergarten gezeigt. Der Hubschrauber war zwar an einem Draht gesichert, erhob sich aber aus eigener Kraft einige Sekunden mit zwei Personen im Korb. Die Auslaufbewegungen der Luftschraube ließen den Apparat wieder sanft zur Erde sinken.

Doch dann nahte das Verhängnis: Am 17. April 1902 wird Hermann Ganswindt durch Beschluß des Untersuchungrichters beim Königlichen Landgericht II wegen Verdachtes fortgesetzten Betruges verhaftet und am nächsten Tag in das Untersuchungsgefängnis Moabit überführt. Die Ausstellungsetablissements am Mariendorfer Weg werden polizeilich geschlossen und das gesamte Inventar versiegelt. Über das Vermögen der Firma Ganswindts wird der Konkurs eröffnet.

Am Vormittag des 19. April werden seine beschlagnahmten Geschäftsbücher von Schöneberg nach Moabit geschafft. In der Vernehmung durch den Untersuchungsleiter, Landrichter Reuter, bestreitet Ganswindt, sich irgendwelcher strafbaren Handlungen schuldig gemacht zu haben. Als er am 12. Juni nach acht Wochen Haft entlassen wird, ist sein Lebenswerk ruiniert und trotz erwiesener Unschuld wird ihm keine Gerechtigkeit zuteil.

Falko Hennig

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