Ausgabe 06 - 2002 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Vom konspirativen Zirkel zum literarischen Salon

Schwule Selbsthilfe in Zeiten der Repression

Derzeit wird im Schwulen Museum in Berlin-Kreuzberg eine Ausstellung gezeigt, die die Geschichte der deutschen Schwulenbewegung und eine Facette der Berliner Salonkultur anhand der Biographie einer nahezu unbekannten Privatperson beleuchtet. Die Ausstellung gewährt einen authentischen Einblick in die Lebenssituation und die Überlebensstrategien von Schwulen während der Nazi-Zeit und in die Entwicklung ihres Selbstverständnisses in Zeiten massiver gesellschaftlicher Ausgrenzung.

Mit den Museumsräumen betreten wir die Wohnung von Richard Schultz, wo wir entlang der einzelnen Stationen seines Lebens Bekanntschaft mit seinen Freunden und Bekannten machen und die Entwicklung seines Salons verfolgen können. Anhand von zahlreichen Bildern, Briefen, Büchern und Kunstwerken aus dem Nachlaß von Richard Schultz entsteht ein lebendiges Bild seines Lebens: 1889 in dem kleinen mecklenburgischen Städtchen Rehna geboren, zieht er 1914 nach Berlin. Unmittelbar nach der Kellnerlehre verbringt er ein paar Jahre in London, Paris und Luxor, um anschließend als Kellner, später Oberkellner und Chef de Rang, im mondänen Hotel Bristol in Berlin zu arbeiten. Schon früh engagiert er sich in der Homosexuellenbewegung der Weimarer Republik, tritt der „Gemeinschaft der Eigenen" bei und baut ein großes Netzwerk von Gleichgesinnten auf. So lernt er den in Homosexuellenkreisen prominenten Adolf Brand kennen, an dessen regelmäßigen Treffen er teilnimmt.

1933 schlägt die alltägliche Diskriminierung von Homosexuellen in offene Verfolgung und Terror um: Homosexuelle Lokale werden geschlossen, Hausdurchsuchungen, Gestapo-Verhöre und Verhaftungen zerschlagen die schwulen Netzwerke. Auch bei Adolf Brand werden bei mehreren Hausdurchsuchungen einschlägige Schriften und Bildmaterial konfisziert. Für die Freunde Brands ist es nun zu gefährlich geworden, sich weiter bei ihm zu treffen. Richard Schultz, der niemals öffentlich als Schwuler in Erscheinung getreten und deshalb den Nazis unverdächtig war, bietet in dieser Situation seine kleine Charlottenburger Wohnung in der Fredericiastraße 5 an, um dort die regelmäßigen Treffen fortzuführen. Viele der Teilnehmer seines bereits seit 1925 bestehenden Salons rekrutieren sich aus ehemaligen Besuchern des Salons von Brand, der im Zuge der Verfolgung durch die Nazis total isoliert wurde. Während der Nazizeit übernimmt Schultz' Salon die Funktion eines konspirativen Zirkels. Hier werden Informationen ausgetauscht, Schutzehen von Lesben und Schwulen angebahnt oder die Flucht aus dem faschistischen Deutschland organisiert. Angesichts der faschistischen Bedrohung hat Schultz, wie viele andere auch, seine Wohnung von verdächtigem Material „bereinigen" müssen. So existieren weder Fotografien von Gästen seines Salons noch beweiskräftige Hinweise auf homosexuelle Beziehungen. Erst nach Schultz' Tod sind in einem Geheimfach seines Sekretärs die Feldpostbriefe seines Freundes Hans Spann, der 1944 an der Ostfront fiel, gefunden worden. Die Briefe geben ein beredtes Zeugnis für eine Freundschaft zwischen zwei Männern, die nur im Verborgenen existiert.

Richard Schultz überlebt die Nazizeit und findet zeitweise eine Anstellung beim „Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands", wo er – weiterhin im Westteil der Stadt lebend – Empfänge für die literarisch-künstlerische Prominenz der DDR organisiert. Aus seinem konspirativen Treff wird derweil ein literarischer Salon, den Richard Schultz bis kurz vor seinem Tod 1977 veranstaltet. In dem Kreis, zu dem auch der Übersetzer Günther Vulpius und der Psychiater Hans Henke gehören, werden u.a. die neu erschienenen Über setzungen der Romane von Jean Genet gelesen, die im postfaschistischen Deutschland der frühen sechziger Jahre für medienwirksame Gerichtsprozesse sorgten, sowie Werke von André Gide und Roger Peyrefitte, dessen Heimliche Freundschaften Vulpius übersetzte.

In den fünfziger Jahren engagierte sich Richard Schultz zusammen mit zahlreichen namhaften Autoren und Intellektuellen für die Abschaffung des §175, den die Bundesrepublik von den Nazis übernommen hatte. Nachdem 1957 dieser Vorstoß vom Bundesverfassungsgericht unter Hinweis auf die „sittenbildende Wirkung" des Paragraphen abgeschmettert wurde, zogen sich viele Homosexuelle resigniert ins Private zurück. Bis 1973 existiert daraufhin in Berlin keine organisierte Vereinigung Homosexueller mehr. Der Kreis um Richard Schultz wird kleiner, viele verlassen Berlin, ältere Freunde sterben, und jüngeren Schwulen erscheint der Kreis anachronistisch.

Die letzten Wochen seines Lebens verbrachte Richard Schultz in Bebenhausen bei Tübingen, wo sich Hans Haug um ihn kümmerte. Er war es schließlich auch, der Richard Schultz' Nachlaß für die Ausstellung zur Verfügung stellte, um diesen weitestgehend verborgenen Abschnitt in der Geschichte der deutschen Schwulenbewegung sichtbar werden zu lassen.

Peter Böke

„Der literarische Salon bei Richard Schultz", noch bis zum 29. Juli im Schwulen Museum, Mehringdamm 61. Geöffnet täglich außer Di von 14 bis 18 Uhr, Sa von 14 bis 19 Uhr.

Außerdem gibt es ein gleichnamiges Begleitbuch zur Ausstellung von Karl-Heinz Steinle, Querverlag, Berlin 2002, 12,50 Euro

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