Ausgabe 06 - 2002 berliner stadtzeitung
scheinschlag

Diese Ausgabe

Inhaltsverzeichnis


Zur Homepage

Anders und besonders

Ein Blick hinter die Fassaden zweier Berliner Straßen

„Where is Oranienstraße?" fragt jemand im Gästebuch des Kreuzberg Museums. Eigentlich liegt sie gleich um die Ecke – raus aus dem Museum, links halten, schon steht man mitten drauf. Aber was sieht man da? Die Straße ist auch ein imaginärer Ort – ein Netz sozialer Bezüge, das nur für Beteiligte erkennbar ist, eine Projektionsfläche für Lebensentwürfe und Kiez-Kitsch, jedenfalls mehr als die Summe ihrer Fassaden, Kneipen und Gemüseläden. Will man etwas über diese unsichtbare Topographie erfahren, sollte man noch eine Weile im Museum bleiben: In der Ausstellung „Ungleiche Schwestern" lassen sich die Kreuzberger Oranienstraße und ihre Friedrichshainer „Schwester", die Boxhagener Straße, nicht bloß abwandern. Es wird sicht- und hörbar, was heutige Anwohner, Ladenbesitzer und Werkstättenbetreiber über ihr Leben im Kiez denken. Zum Ausstellungskonzept gehört, daß die Vergangenheit der beiden ehemaligen Arbeiterquartiere im Hintergrund bleibt: Erst wenn man in die Fotowände eingelassene Schubladen aufzieht, findet man alte Aufnahmen und Dokumente. Was sich heute hinter den Mauern abspielt, zeigen Stereoskop-Bilder der Höfe, Wohnungen und Werkstätten. Teile der Interviews sind auf Tafeln an der jeweiligen „Fassade" zu lesen, über Kopfhörer werden O-Töne eingespielt.

Seit Hausbesetzertagen hat sich SO 36 stark verändert, doch für die Mehrheit der Bewohner ist eine tolerante Atmosphäre weiterhin der große Pluspunkt: „Wenn ich in der Oranienstraße lebe, muß ich mit jedem einverstanden sein, sonst macht es keinen Spaß, hier zu leben", sagt Muharren Altintas, 45, Besitzer von „Foto Selçuk" in der Nr. 182. Als „anders und besonders", aber auch als laut und rücksichtslos wird der Kiez beschrieben. „Der Heinrichplatz ist im Sommer wie ein Dorfplatz", findet das Ehepaar Schulze, das dort den ältesten Kiosk Berlins führt – für andere spricht gerade das gegen die Gegend. Nicht nur manche Friedrichshainer diagnostizieren einen gewissen Stillstand im Nachbarbezirk: „In Kreuzberg feiern doch alle gemeinsam ihren 50. Geburtstag. Im Osten merkt man, daß man älter wird." In die „Boxhagener" Zugezogene reizt an ihrer Straße das „Unfertige", die „heterogene Struktur", die viele Freiräume bietet. Noch werden sie nicht genutzt, um Szeneläden aufzumachen. Ein Superkiez für Bücher sei es, finden Thomas und Bernd Braun, Besitzer des Antiquariats „Gregor Gog" in der Boxhagener 35, dessen Namenspatron in den 1920ern die ersten Straßenzeitungen herausgab und einen Hungerkongreß der „Bruderschaft der Landstraße" organisierte. Es gibt das Ostendtheater in der 99, das kleine Programm-Kino „Intimes" in der 107 und manches mehr. An einigen Ecken sei die Boxhagener allerdings „wie Neukölln", sagt ein Anwohner, womit er auf Leerstand und Tristesse anspielt. So verschieden sich die beiden Straßen durch den Mauerbau entwickelt haben, eines haben sie gemeinsam: Alte Läden und Gewerbe, die die alltägliche Infrastruktur des Kiez sicherten, verschwinden nach und nach. Für die hier aufgewachsene 63jährige Gisela Perschal ist die Gegend um die Boxhagener aber weiter „ein typischer Berliner Bezirk mit Zusammenhalt", doch Anwohnerin Carsta Wustlich hat beobachtet, daß nur noch „ein paar Omis Tag für Tag ihren Schwatz auf der Straße halten". Wie in Kreuzberg wird das Straßenbild zunehmend von jüngeren Leuten geprägt, viele frühere Bewohner sind weggezogen oder gestorben. Als fester Bestandteil der alternativen Hausgemeinschaft Oranienstraße 7 ist die 100jährige Lotte Kirchberger also eine Ausnahme. Gemeinsames Kochen war zuerst gewöhnungsbedürftig, doch nach jeder Hausgeburt kam sie sofort zum Babygucken. „Ich finde es herrlich hier", versichert sie. „Ungleiche Schwestern" zeigt sorgfältig recherchierte, spannende und amüsante Alltagsgeschichte(n) – unbedingt ansehen!

Annette Zerpner

„Ungleiche Schwestern – die Oranienstraße und die Boxhagener Straße treffen sich", bis 1. September im Kreuzberg Museum, Adalbertstr. 95a, Mi-So 12-18 Uhr. Die Ausstellung ergänzen zwei historische Stadtteilspaziergänge, die am 28. Juni und 11. Juli, jeweils 18 Uhr, vom Museum starten.

© scheinschlag 2002
Inhalt dieser Ausgabe | Home | Aktuelle Ausgabe | Archiv | Sitemap | E-Mail

  Ausgabe 06 - 2002