Ausgabe 06 - 2002 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Zeitgeschichte und Privates

Rückblick auf ein Fotografenleben: Henry Ries erinnert sich

Berlin 1947. Auf der Suche nach Motiven wandert der junge New York Times-Fotograf Henry Ries mit seiner Leica durch Trümmerlandschaften. Er findet sich gut zurecht, denn Berlin war ein-mal seine Stadt: Von 1917, als der kleine Heinz in eine wohlhabende Familie assimilierter Juden hineingeboren wurde, bis zu seiner Flucht 1938 in die USA.

In dem autobiographischen Bildband Ich war ein Berliner erinnert sich der heute noch in New York lebende Ries an das zwiespältige Wiedersehen: „Kaum in Berlin angekommen, sah ich im Geiste meine alten Berliner Freunde vor mir. Aber gleichzeitig hörte ich hinter mir marschierende SA-Männer im Schritt und Tritt und mit Gebrüll ..." Er hält das chaotische Überleben der Stadt fest: Schwarzmarkthändler, Trümmerfrauen, Flüchtlinge, alliierte Soldaten, Kinder mit dünnen Beinen auf dem Karussell vor dem ausgebrannten Stadtschloß, Kriegsheimkehrer, Massenversammlungen und der Alltag während der Blockade, als sein berühmtes Bild vom tief fliegenden Rosinenbomber entsteht. Manchmal haben die Portraitierten einen Namen wie „Eberhard, Jahrgang 1918, ohne Beruf", der am Anhalter Bahnhof auf die Gleise starrt und schon immer vom Reisen geträumt hat. Die Fremde hat er nur vom Panzer aus und im sibirischen Lager kennengelernt. „Gefangener seiner Zeit" nennt ihn Ries, der nicht Richter, sondern Beobachter sein will. Manchmal holt ihn die eigene Vergangenheit ein. Unter den jüdischen Shanghai-Rückkehrern taucht Jugendfreund Walter auf: „Meine Kamera konnte nichts weiter sehen, wir wollten voneinander hören." Unveröffentlicht bleiben muß seine einzigartige Dokumentation der Wiener Untergrund-Eisenbahn, um die auf ihre illegale Einwanderung nach Palästina wartenden „Displaced Persons" nicht zu gefährden.

Ich war ein Berliner verbindet Privates und Zeitgeschichte. In kurzen Textpassagen und Fotos wird das Leben der gutbürgerlichen Familie Ries mitsamt Rissen in der gepflegten Fassade skizziert, bis zu ihrem erzwungenen Zerfall in den 1930er Jahren. Humorvoll beschreibt Ries den schwierigen Anfang in New York und seine Zeit in der Army. Nazi-Dokumente ergänzen die Schilderungen. Das Buch ist auch ein Denkmal für die in Theresienstadt umgekommene würdige „Omutti" und die nach dem Krieg wiedergefundene katholische Kinderfrau „Fräuchen", die seine Schwester Steffi rettete. Für die New York Times war Ries von 1947 bis 1952 in Europa unterwegs, im bitterarmen, beklemmenden Spanien Francos ebenso wie in der entrückten Schweiz bei den Mönchen von St. Bernhard. Seine Texte liefern, was die Fotos selbst nicht verraten: Umstände, Hindernisse, Zufälle ... Oft kommt dabei Amüsantes zu Tage, manchmal auch Dramatisches, nur einige allzu private Erinnerungen wirken deplaziert: Wenn Ries den „jungen schlanken Frauen" nachhängt, die „einen Mann" aus ihm machten, befindet er sich irgendwo zwischen Altherren-Anekdote und feuchten Pennälerträumen. Schön für ihn, daß es „Uschi, Victoria und alle die anderen" gab – aber so genau wollte man's dann doch nicht wissen.?

Annette Zerpner

Henry Ries: Ich war ein Berliner.
Erinnerungen eines New Yorker Fotojournalisten. Parthas Verlag, Berlin 2001. 35 Euro.

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