Ausgabe 06 - 2002 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Masken, Schmuck und Schönheitschirurgie

Über die Sanierung von Plattenbauten

Die Platte. Die meisten finden sie langweilig und doof, einige geradezu menschenverachtend häßlich, andere zumindest praktisch. Die Fachwelt erörtert ihre Probleme: eintöniger Städtebau, Monofunktionalität, schlechte Bausubstanz und ­ allem voran ­ ein mieses Image und ein beträchtlicher Leerstand. Nur Außenseiter behaupten mit augenzwinkernder Ironie, die Platte sei „skurril" und damit irgendwie schon wieder „angesagt". Nur selten geht die Debatte über solche Schlagworte hinaus. Der konkrete Umgang mit dem ungeliebten Bautyp ist entsprechend konzeptlos.

Gebaute Nüchternheit

Was ist der Plattenbau? Ein industrielles Massenprodukt, kurzlebig und unflexibel. Seine serielle Konstruktion erfüllt ihre immer gleichen Funktionen auf die immer gleiche, fantasielose und grobschlächtige Weise. Außer effizienten Wohnungsgrundrissen und einem bezahlbaren Ausstattungsstandard gönnt die Platte ihren Bewohnern keinen sinnlichen Genuß; sie wird als monoton und trostlos empfunden. Ihr städtebauliches Potential erschöpft sich meist in hilflosen Arrangements gleichförmiger Riegel, deren brachiale Sinnfälligkeit ­ Reihung, Hof, Zickzackmuster ­ nur vom Flugzeug aus ersichtlich ist.

Der Plattenbau ist außerdem ein Symbol. Er erzählt von der Fortschrittlichkeit der sechziger Jahre, als die neuartigen Wohnungstypen für Begeisterung sorgten, und von der resignierten Nüchternheit der Achtziger. Er steht für die verschleppte Nachkriegskrise der DDR, für ihre Wohnungsnot und ihre notorische Ressourcenknappheit, für ihren Pragmatismus und, wie alles, was von ihr übrig ist, für ihr Scheitern. Die Platte ist in ihrer ganzen Wirkung proletarisch und billig ­ beides Wörter, die in der Bundesrepublik nur mit Verachtung ausgesprochen werden.

Aber auch dies ist der Plattenbau: ein den Umständen angemessenes, ein praktisches, unsentimentales und also: vernünftiges System. Die Platte gehorcht uneingeschränkt den Bedingungen der industriellen Produktion. Sie entsagt allen stilistischen Spielereien und verzichtet auf jede städtebauliche Bezugnahme. Nüchtern, ja ausdruckslos widmet sie sich den Bedürfnissen der Masse ihrer Nutzer, der es ­ in der Vorstellung der Moderne ­ bei Gebrauchsarchitektur auf die materielle Tauglichkeit ankommt und nicht auf den ästhetischen Gehalt. Die Platte ist eine echte Wohnmaschine ­ der vielleicht klarste architektonische Ausdruck der Moderne. „Dem Individualismus, diesem Produkt des Fiebers, ziehen wir das Banale und Alltägliche vor", schrieb Le Corbusier 1927.

Die Moderne ist vorbei und ihre Ideale vergessen. Zwar wollen die Landschaften, von denen hier die Rede ist, nach wie vor nicht so recht blühen. Aber der Anblick ihrer bescheidenen Architektur gilt nun als unerträglich, ihre optische Aufwertung als oberstes stadtplanerisches Ziel. Hätte man das Geld dazu, man würde wohl alle Plattenbausiedlungen durch großzügige Parkanlagen ersetzen. Oder durch hübsche Neubauten ­ im Zentrum als „urbane" Blockrandbebauung, an der Peripherie als „familienfreundliche" Einfamilienhäuser. Einstweilen aber sind die schrammeligen Klötze bei aller Unbeliebtheit zum größten Teil bewohnt und bleiben damit ­ bis auf weiteres ­ vom Abriß verschont. Die Architekten müssen lernen, mit ihnen umzugehen.

Alles neu, alles anders

Es besteht kein Zweifel, daß die Plattenbauten der sechziger und siebziger Jahre heute samt und sonders altersschwach sind. Sie müssen gepflegt und instandgesetzt werden. Man kann es den Wohnungsbaugesellschaften nicht verdenken, daß sie, statt nur punktuell die Schäden zu beheben, lieber eine Generalüberholung bezahlen und bei der Gelegenheit noch eine Reihe sinnvoller Verbesserungen. Eine komplette Sanierung also, aber was für eine! Je weniger hinterher von der Plattenartigkeit der Plattenbauten zu sehen ist, desto besser.

Die Architekten sind einverstanden. „Reparatur", das klingt in ihren Ohren nach Stückwerk und Stümperei, reparieren tun Hausmeister, Architekten sanieren. Und zwar so gründlich es geht – eigentlich wäre ihnen Abriß und Neubau lieber. Also machen sie sich an die Arbeit: neue Installationen, aktueller Ausstattungsstandard, Wärmedämmung, Schallschutz. Für großzügigere Grundrisse legen sie einige Wohneinheiten zusammen. Gerne würden sie auch das Erschließungssystem umkrempeln, Maisonette-Wohnungen, terrassengroße Balkone oder verglaste Treppenhaustürme bauen. Doch so weit reicht meist weder das Geld noch die Geduld der Bewohner. Die Architekten haben ein Problem: An der Grundstruktur der Platten, an ihrem ureigenen Charakter, können sie nicht wirklich etwas ändern. Und doch sollen sie die stillen, groben Kästen in bunte, lustige und abwechslungsreiche Schmuckstücke verwandeln, in Künder der neuen, der besseren Zeiten. Was bleibt ihnen übrig? Fassadendesign. Postmoderne Dekoration, die weder mit der Konstruktion oder der Funktionsweise der Gebäude, noch mit ihrer Geschichte auch nur das geringste zu tun haben.

Kommentierende Dekoration

Die oberste architektonische Forderung der Moderne war die nach dem Einklang von Funktion und Form. Jede Form soll von ihrer Funktion erzählen ­ ein kluges Prinzip, das zumindest an den Universitäten immer noch hochgehalten wird. Der Amerikaner Robert Venturi, der wohl dreisteste Exponent der architektonischen Postmoderne, kritisierte diese „ehrlichen Konstruktionen" als verkrampft akademisch und in der Praxis mißverständlich. Er vertrat eine andere Entwurfshaltung, die er unverblümt das „Dekorieren von Schuppen" nannte. „Dekorierte Schuppen" sind nüchterne Zweckbauten, denen man werbewirksame, aber ansonsten funktionslose Formen einfach vor die Nase klebt. Die blinkenden Schaufassaden amerikanischer Casinos, aber auch die Prachtportale gotischer Kathedralen sind solche Dekorationen. Die Theorie Venturis mag den hiesigen Architekten unangemessen frivol erscheinen. Aber sie beschreibt ziemlich genau die Situation, vor der sie bei der Sanierung von Plattenbauten stehen. Es wäre lohnend, Venturi ernst zu nehmen. Wenn schon dekorieren, dann auch richtig!

Schaufassaden mit Holzfachwerk- oder Antik-Dekor, wie eine venezianische Maske vor das ernste Gesicht der Plattenbauten gestellt? Leider gilt Venturis derber Humor in Europa als albern, so daß wir bis auf weiteres auf ironische Kommentare dieser Art werden verzichten müssen. Es geht aber auch anders. Jaques Herzog etwa hat die Fassade der Unibibliothek Eberswalde mit komplizierten Siebdrucken regelrecht tätowiert. Das Ergebnis ist ein Gebäude, das trotz der modischen Überformung als Plattenbau erkennbar geblieben ist. Auch dies eine Art der Dekoration, ebenso das Spiel bunter Balkonbrüstungen, das man oft an billig sanierten Platten findet, oder die allgegenwärtigen Sonnenschutzelemente. Solche Eingriffe wirken wie Modeschmuck: Billig, leicht, unbefangen, vor allem aber vorläufig, also jederzeit durch etwas neues ersetzbar.

Rückfall in die Gründerzeit

Wenn aber der Gestaltungsdrang der Architekten und das Repräsentationsbedürfnis ihrer Auftraggeber keine Grenzen kennen, dann ist das Ergebnis nicht mehr Dekoration, sondern Mimikri. Dann verschwindet die Gliederung der Fassaden unter Strukturen aus buntem Gestänge, Glaslamellen oder Metallsäulen. Ganze Häuserblocks werden mit flirrenden Metallelementen überzogen, die an Raumschiffe erinnern, oder abwechselnd mit Klinkern oder Holzplanken verkleidet, die solides Handwerk suggerieren. „Fröhlich" bunt bepinselten Klötzen werden „gemütliche" Satteldächer wie Faschingshüte auf den Kopf gesetzt. In der Köpenicker Straße gelang den Sanierern sogar der schlechte Witz einer historisierten Platte: Mittels optischer Tricks bei der Bemalung erweckt die Fassade den Eindruck eines neoklassizistischen Repräsentationsbaus, mit Sockelgeschoß und Kranzgesims mit ionischem Zahnschnitt-Ornament. Das Leitbild solcher Sanierungen ist nicht die Tätowierung, der Schmuck oder die Maske, sondern die entstellende Schönheitsoperation. Das nüchterne Gesicht der Plattenbauten soll nicht kommentiert, sondern zum Verschwinden gebracht werden.

Hier haben wir ihn wieder, den fiebrigen Inividualismus der Gründerzeit, über den Le Corbusier so schimpfte. Wahllos und geschmäcklerisch wurde damals jedes Gebäude, von der Fabrikantenvilla bis zur düstersten Mietskaserne, mit Stuckgeschnörkel verzuckerbäckert. Von der Realität der dahinterliegenden Funktionen, vom wahren Charakter der Häuser, wollte man nichts wissen. Es ist erst ein paar Jahrzehnte her, da zahlte der Westberliner Senat den Besitzern von Altbauten Prämien, damit sie die Fassaden von derlei altmodischen Ornamenten befreien. Jetzt haben wieder die Stukkateure Konjunktur und geben den alten Gemäuern ihre Verzierungen zurück. Der schmeichlerische Schein ist wieder erwünscht ­ aber für wie lange?

Man kann von architektonischen Prinzipien halten, was man will. Fest steht, daß sie wechseln. Was gestern noch als überladen und kitschig verachtet wurde, gilt heute als lebendig und hübsch. Was uns heute trostlos und roh erscheint, werden wir morgen wieder als ehrlich und schlicht zu würdigen wissen. Lassen wir also die Plattenbauten in Ruhe. Reparieren wir sie, wo sie Mängel haben. Verstecken wir sie, wenn es denn sein muß, hinter Masken, behängen wir sie mit modischem Tand, tätowieren oder schminken wir sie in den aktuellen Farben, das ist alles halb so wild. Aber zerstören wir sie nicht unwiederbringlich, entstellen wir sie nicht bis zur Unkenntlichkeit! Es wird nicht mehr lange dauern, dann werden wir der Platte wieder etwas abgewinnen können. Dann wird man neben ihren Mängeln auch ihre Qualitäten erkennen, ihre Geschichte verstehen und ihren Charakter respektieren, und es wird Architekten geben, die sie klug zu interpretieren wissen. Bis dahin: Augen auf! Nicht alles Neue ist ein Fortschritt, nicht alles Teure eine Verbesserung. Und nicht alles Hübsche ist schön.

Johannes Touché

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