Ausgabe 06 - 2002 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Einfach sehen, was möglich ist

Ein Versuchsprojekt in der Hellersdorfer Platte

In einem Hellersdorfer Hochhaus beginnt dieser Tage ein Experiment: „Dostoprimetschatjelnosti" ­ „Sehenswürdigkeiten". 45 junge Architekten, Designer und Künstler werden sich in einer der größten deutschen Plattenbausiedlungen mit dem Verhältnis von planerischer Utopie der Moderne und gebauter Realität auseinandersetzen. Ein Interview mit den Initiatoren Axel Watzke, Christian Lagé und Steffen Schuhmann von der Kunsthochschule Berlin-Weissensee.

Sie haben ein leerstehendes Haus ­ das ehemalige Bezirksamt ­ bezogen, um mit Architekten und künstlerisch tätigen Menschen gemeinsam zu leben und zu arbeiten. Wer von so einem Vorhaben hört, dem entsteht vor dem geistigen Auge das Bild eines Jahrhundertwendebaus in einem In-Bezirk. Ein Blick aus einem Fenster zeigt eine ganz andere Kulisse. So weit das Auge reicht: Plattenbau. In der Gemeinschaftsetage DDR-Mobiliar vor original Blümchentapete. Wird die Platte langsam zur Popkultur?

Schuhmann: Ja und nein. Eine DDR-Retrowelle gibt es seit längerem ­ sie erfaßt durchaus auch den Plattenbau, mit F6 und Coca-Cola-Werbespots in entsprechendem Ambiente. Dabei geht es um Accessoires, die, aus dem Kontext gerissen, exotisch wirken. Doch außerhalb ihrer eigenen Zusammenhänge ergeben diese Dinge keinerlei Sinn mehr. Insofern geht es bei der Retrowelle nie um die Auseinandersetzung mit irgendetwas, sondern um das Gegenteil davon. Uns interessieren weder diese Blümchentapete noch dieser Retrostil ­ sie sind nicht Thema der Veranstaltung.

Können Sie Ihr Thema kurz in Worte fassen?

Schuhmann: Wir wollen sehen, ob man in einem Wohnhaus in Plattenbauweise Leben und Arbeiten kombinieren kann. Daß Gebäude wie dieses leerstehen, ist kein Einzelfall. Leerstandsprobleme gibt es in sehr vielen seriell gefertigten Großsiedlungen. Hellersdorf sieht im Gegensatz zu manchen anderen Siedlungen ­ besonders in Ostdeutschland ­ noch sehr gut aus. Die Leute wohnen gerne hier und zeigen das auf ihre Art ­ durch geschmückte Balkone mit vielen Blumenkästen. Doch auch hier gibt es Abwanderung, und es scheinen nicht genügend Mieter nachzuziehen, um das Defizit ausgleichen. Vor diesem Hintergrund wird plötzlich über ein Thema diskutiert, das jahrzehntelang tabu war: ob man Häuser abreißen darf. Bewohnbare Gebäude abzureißen ­ das ist so ähnlich, wie Brot wegzuwerfen. Es paßt ebensowenig in unser Denken wie die Vorstellung, daß Städte und Siedlungen schrumpfen. Und es steht stark im Gegensatz zur fortschrittsgläubigen Utopie, mit der diese Siedlungen gebaut wurden. Unsere Frage ist nun, ob die Plattenbauten noch Potentiale bieten, die gemeinhin nicht gesehen werden.

Unser Versuchsprojekt wird sein, ob man mit einem Plattenbau mehr anfangen kann, als nur darin zu wohnen. Ungefähr 40 Menschen werden auf elf Etagen einen Sommer lang leben und arbeiten. Weil wir einen Treffpunkt ­ ein Forum ­ im Haus brauchen, wird eine Etage zur Gemeinschaftsetage. Dazu haben wir Trennwände beseitigt. Ein weiteres Stockwerk wird Kulturetage. Außerdem werden Fotolabore, Tonstudios, Schnittplätze etc. entstehen ­ eben alle Einrichtungen, mit denen wir gemeinhin unser Geld verdienen.

Parallel zu diesem praktischen Part beschäftigen wir uns mit dem Verhältnis zwischen planerischer Utopie der Moderne und ihrer Realität. Und ­ ganz wesentlich ­ mit möglichen Ansätzen von Leben, Arbeiten und Kultur in heutigen Großsiedlungen, speziell in Hochhäusern. Das Ganze soll ein Experiment sein, dessen Ausgang völlig offen ist. Wir wollen die Platte weder hypen, noch abschreiben, sondern einfach sehen, was in ihr möglich ist.

Die Idee der modernen Großsiedlungen ­ preiswerte Wohnungen eines bestimmten Standards für jedermann zu bauen ­ ist ja nichts Verdammenswürdiges. Daß das Ergebnis heute so aussieht, wie es aussieht, ist eine Folge dessen, daß man das Experiment zu früh abgebrochen hat. In den ersten Testgebäuden, am Springpfuhl in Marzahn oder im jüngst abgerissenen Hochhaus in der Mollstraße, gab es zum Teil sogar noch variable Grundrisse mit versetzbaren Trennwänden. Man lotete die Möglichkeiten der modernen Bauweise aus, brachte sie mit den Lebensbedürfnissen von Menschen in Verbindung. Doch mit dem Wohnungsbauprogramm von 1971 wurde in der DDR die Lösung der Wohnungsfrage bis 1990 verordnet. Seither wurde nur noch stur Wohnraum produziert. Wir wollen, könnte man großspurig sagen, das Experiment nachholen.

Wie haben Sie die Teilnehmer für das Projekt gefunden?

Watzke: Die Hellersdorfer Straße 173 wird für diesen Sommer Außenstelle der Kunsthochschule Weißensee sein. Teilnehmer haben wir international über die Verteiler von Kunsthochschulen rekrutiert. Das Interessante an der internationalen Zusammensetzung ist, daß die Teilnehmer, je nachdem ob sie aus Frankreich oder aus Sibirien kommen, einen völlig anderen Blick auf die seriellen Siedlungen der Moderne haben. Eine Architektin aus Novosirbirsk zum Beispiel war völlig erstaunt, daß ein Gebäude aus den achtziger Jahren mit einer Fernheizung leerstehen kann. Ein anderer Grund, weshalb wir unseren Versuch international angelegt haben, ist, daß die Zukunft von industriell gefertigten Großsiedlungen ein Problem ist, das weit über Berlin hinausreicht.

Wie reagieren Eigentümer und Bezirksamt?

Lagé: Das Bezirksamt hat uns mit offenen Armen empfangen. Immerhin ist es ein Kulturprojekt von internationalem Niveau, und vor allem ­ es kostet sie nichts. In erster Linie hatten wir uns von den Wohnungsbaugesellschaften Resonanz erhofft, da wir dachten, daß sie unsere Impulse interessieren könnten, weil sie Probleme mit Leerständen haben. Die Eigentümerin dieses Hauses, die MüBau, hat uns von Beginn an unterstützt. Sie läßt uns beispielsweise mietfrei wohnen. Anlaufschwierigkeiten gab es hingegen bei der Verständigung mit den anderen Hellersdorfer Wohnungsbaugesellschaften. Leider konnten wir nicht auf Anhieb vermitteln, daß wir mehr wollen, als nur das Haus anzumalen.

Weshalb wollten Sie gerade dieses Haus beziehen?

Watzke: Als Hochhaus mit elf Geschossen ist es in einer Wohngegend mit Sechsgeschossern weithin sichtbar, es liegt verkehrsgünstig und steht komplett leer. So belästigen wir durch unsere Arbeit keine Mieter. Ein anderes, fast vollständig leeres Hochhaus, hätte es an der Frankfurter Allee gegeben. Dort wäre man leichter bekannt geworden, doch das Signal wäre in Richtung Friedrichshainer Partykultur gegangen. Ein Umfeld, in dem tausende von Leuten in ganz ähnlichen Wohnungen leben, paßt wesentlich besser. Ein wichtiges Ziel ist es ja, mit den Anwohnern Kontakt zu bekommen.

Sind Schritte unternommen worden, Kontakt mit Anwohnern aufzunehmen? Gab es erste Resonanz?

Lagé: Möglicherweise werden wir hier keinen leichten Stand haben. In Hellersdorf scheint es eine Tendenz zu geben, sich abzuschotten. In Gesprächen mit Ansässigen wurde deutlich, daß dabei verschiedene Mißverständnisse eine Rolle spielen. Hellersdorf hat ein hohes Durchschnittseinkommen, ein sehr hohes Bildungsniveau, wenig Arbeitslosigkeit und wenig Kriminalität. Trotzdem gilt der Bezirk Berliner Innenstädtern, die ihn nicht kennen, oftmals als Ghetto. Dabei haben die Leute es sich durchaus ausgesucht, hier zu wohnen und empfinden ihre Wohngegend als nicht schlecht.

Schuhmann: Eine regelrechte Absurdität: Fast 50 Prozent der hier ansässigen Bevölkerung wählt PDS ­ das hindert Fremde jedoch nicht daran, den Hellersdorfern einen Hang zum Rechtsradikalismus zuzutrauen. Einfach weil die Assoziation Osten ­ Skinhead ­ Platte schon so eingeschliffen ist. Das kränkt viele. Hellersdorf ist kein Ghetto, doch es gelingt nicht, das zu vermitteln. Manche reagieren mittlerweile mit Rückzug. Aber das heißt nicht, daß wir es unversucht lassen wollen. Wir haben bereits Kontakt mit Schulen aufgenommen. Möglicherweise können wir den Kindern etwas bieten ­ eine Art erweiterten Kunstunterricht. Dafür dürfen wir die Duschen in der Schulturnhalle mitnutzen. Inzwischen bringen auch viele Nachbarn alte Sofas oder Waschmaschinen vorbei, um uns zu unterstützen.

Wenn Sie betonen, Ihr Experiment des Wohnens und Arbeitens im Plattenbau beziehe sich auf Möglichkeiten von Großsiedlungen im Allgemeinen ­ meinen Sie nicht, daß die Nutzungen, die Sie ausprobieren, sehr speziell auf die Bedürfnisse einer jüngeren Altersgruppe zugeschnitten sind? Die Teilnehmer sind im Durchschnitt zwischen zwanzig und dreißig und leben während des Testlaufs gemeinschaftlich in einem Haus.

Schuhmann: Mit festgezurrten Vorannahmen über die Bedürfnisse von Menschen wäre ich generell vorsichtig. Bedürfnisse richten sich immer nach Gewohnheiten und nach Gegebenheiten. Schon gar nicht würde ich behaupten, daß ältere Menschen keine Gemeinschaftsräume nutzen würden. Auch in früheren Plattenbauten gab es solche Räume, die angenommen wurden. Unser Projekt speziell ist natürlich auf unsere Bedürfnisse zugeschnitten. Aber unsere Ergebnisse sollen nicht als Handlungsanweisung für eine bestimmte Umnutzung von Plattenbauten verstanden werden, die so und nicht anders erfolgen kann. Eher sollen sie ein Versuchsfeld eröffnen, Gebäude industrieller Bauweise in Großsiedlungen anders zu nutzen, nicht nur als Schlafstädte. Wie ein anderer Bedarf und andere Möglichkeiten aussehen würden, wäre von Fall zu Fall zu ermitteln. Konkret kann unser Projekt möglicherweise Wege eröffnen, in Großsiedlungen etwas zu etablieren, was bisher typisch für Innenstädte ist. Und zwar, daß Räume günstig für Gewerbe vermietet werden, möglicherweise auch temporär. Was in Kreuzberger Fabriketagen funktioniert, könnte auch ein Modell für Marzahn oder Hellersdorf sein.

Lagé: Denkbar wäre, daß auf dieses Projekt ein Anschlußprojekt folgt. Derzeit ist die Inbetriebnahme des Gebäudes inklusive der Um- und Einbauten freilich ein Gewaltakt, den wir nur bewältigen können, weil wir mietfrei wohnen. Doch diese Startenergie müßte nicht permanent investiert werden, und die Strukturen könnten sich auf Dauer einspielen. Die Adresse könnte sich etablieren. Sicherlich beziehen sich derartige Angebote auf Jüngere und auf eine bestimmte Kultur. Aber es fehlt ja in den Großsiedlungen mittlerweile der Zuzug von Jüngeren.

Fließen die Ergebnisse Ihrer Arbeit in konkrete Überlegungen zum Stadtumbau ein? Zum Beispiel an die Stadtentwicklungskonzepte zum Stadtumbau Ost, die gerade in vielen Kommunen Ostdeutschlands und in Berliner Bezirken ausgearbeitet werden?

Lagé: In der Vorbereitung haben wir eng mit dem Stadtplanungsamt zusammengearbeitet und haben natürlich vor, unsere Ergebnisse an geeigneter Stelle einzubringen. An unserem Projekt sind Architekten und Designer ebenso wie Stadt- und Raumplaner beteiligt. Aber es ist zu früh, um abzusehen, welche Art von Zusammenarbeit zustande kommt. Derzeit sind wir noch auf dem Stand, Dichtungen und Wasserspülungen zu reparieren und vier Kilo Schlüssel den Schlössern von 99 Räumen zuzuordnen.

Interview: Tina Veihelmann

Informationen zum Projekt „Dostoprimetschatjelnosti" direkt in der Hellersdorfer Straße 173, Hellersdorf,
fon: 99 27 54 01, oder netz:
www.anschlaege.de

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