Ausgabe 06 - 2002 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Die neue Mitte liegt links oben (VI)

Vom Galgen zum größten Sanierungsgebiet Europas

Wer sich um Mitternacht in der Nähe der katholischen St. Sebastian Kirche am Gartenplatz herumtreibt, kann, so heißt es, manchmal ein Flackern in den Fenstern des Gotteshauses beobachten. Es soll von der Laterne der Witwe Meyer stammen, die in ihrem Grab keine Ruhe findet und nach ihren nächtlichen Ausflügen nicht sofort zurückfindet, weil zum Zeitpunkt ihres Todes hier noch keine Kirche stand. Frau Meyer war deshalb Witwe, weil sie ihren Mann umgebracht hatte. Von 1753 bis 1837 stand an Stelle der Kirche der Galgen. Witwe Meyer war die Letzte, die hier hingerichtet wurde. Die öffentlichen Hinrichtungen stellte man damals nicht aus humanitären Erwägungen ein, sondern weil sie mehr und mehr zu Volksfesten ausarteten und die eigentlich beabsichtigte abschreckende Wirkung in eine Verhöhnung der Obrigkeit umschlug.

Etwa gleichzeitig mit der Aufstellung des Galgens gründete Friedrich II. drumherum, zwischen Garten- und Brunnenstraße, die Kolonie Neu-Voigtland, um hier Handwerker aus Sachsen anzusiedeln, die auf den Baustellen der aufstrebenden Residenzstadt schuften sollten. Eines der damals gebauten Vorstadthäuser steht heute noch am nordwestlichen Ende der Ackerstraße. Die anderen riß man zwischen 1860 und 1880 ab, als infolge der beginnenden Industrialisierung dringend Wohnungen benötigt wurden und dubiose Spekulanten die Bestimmungen der damals geltenden Bauordnung ausreizten. So entstand eines der Extrembeispiele der Mietskasernenenstadt: Als der Inbegriff menschenunwürdigen Wohnens berüchtigt war Meyer's Hof in der Ackerstraße 132/133, mit fünf Hinterhöfen und weit über tausend Bewohnern.

Wenn man heute vom scheinschlag kommend die Ackerstraße hochläuft und die Bernauer Straße überquert, findet man längst so gut wie nichts mehr von alledem. Nirgends sonst in Berlin ist die ehemalige Staatsgrenze schroffer als hier. Im Weddinger Teil der Ackerstraße ist es plötzlich unglaublich ruhig, fast wie in einem Dorf. Die Gegend wirkt aber tagsüber nicht tot, eher hat man den Eindruck, daß man sich hier kennt. Trotzdem sind an vielen Hochhäusern, die hier jetzt stehen, Schilder angebracht, die die leeren Wohnungen anpreisen. Die bereits in den Fünfzigern entstandene Ernst-Reuter-Siedlung gehört zwar nicht direkt zu dem in den frühen Sechzigern ausgerufenen „größten Sanierungsgebiet Europas" beiderseits der Brunnenstraße, ist aber dessen Vorläufer und der Beginn eines zweiten, diesmal staatlich organisierten, radikalen Stadtumbaus, samt gezielter Zerstörung gewachsener sozialer Netze.

Foto: Mathias Königschulte

Nicht zufällig begann die „Sanierung" hier, wo die KPD in den frühen Dreißigern mehr als 50 Prozent der Stimmen eingesammelt hat und auch nach dem Zweiten Weltkrieg über 25 Prozent für KPD/SED votierten. Politiker, Stadtplaner und Soziologen äußerten sich dazu aus heutiger Sicht erstaunlich offen. Die Soziologin Katrin Zapf schreibt 1968 in der Stadtbauwelt: „Was im Wedding zur Erneuerung ansteht, ist nicht nur die Bausubstanz des späten 19. Jahrhunderts, die die industrielle Unterschicht beherbergte, sondern es sind auch die sozialen Restbestände einer Gesellschaft von gestern." Die damals aktuelle westdeutsche und westberliner Gesellschaft gab nämlich vor, eine „nivellierte Mittelstandsgesellschaft" zu sein, eine Gesellschaft, in der es keine Klassengegensätze mehr gäbe, und folglich durfte es auch keine Arbeiterkieze geben.

Von den Fünfzigern bis in die Achtziger dauerte der Stadtneubau. Etwa 90 Prozent der Häuser fielen der Abrißbirne zum Opfer. Von den zeitweilig über 45000 Einwohnern lebten 1981 nur noch 14000 in der Ecke, seitdem wuchs die Bevölkerung wieder auf 25000 an. Die vorherigen Bewohner zogen größtenteils unfreiwillig zunächst ins Märkische Viertel oder später in bereits fertiggestellte Neubauten im alten Kiez. Trotz anderslautender Sanierungsziele ist wieder eine Arme-Leute-Gegend entstanden, ein fast reines Wohngebiet diesmal, in dem es kaum noch Kneipen gibt. Das Gemeinschaftsleben findet stattdessen eher auf der Straße statt, was sich aufgrund vieler Sackgassen und reinen Fußgängerstraßen, wie der Swinemünder Straße, förmlich aufdrängt. Wegen der langen Bauzeit ist die Architektur aber nicht langweilig. Allen städtebaulichen Moden, die seit den Fünfzigern bis 1985 Westberlin heimsuchten, trug man Rechnung. Auffällig ist, daß es viel halböffentlichen Raum gibt. Zahlreiche Innenhöfe sind zugänglich, und oft genug erreicht man darüber die nächste Straße. Ein Paradies für jugendliche Mofafahrer. Wer sich hier von der Polizei fangen läßt, muß sich schon ziemlich dumm anstellen.

Dirk Rudolph

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