Ausgabe 05 - 2002 berliner stadtzeitung
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Letzter Halt vor dem Westen

10 Gründe nach Slubice zu fahren

1. Slubice ist schön. Wenn am Morgen die Sonne über den Dächern aufgeht und die Oder in einen rötlichen Schimmer taucht, und die Plattenbauten am Platz der Freundschaft mit ihren kleinen Balkonen in eckig mattem Glanz erstrahlen, wenn die ersten Menschen durch die Zigarettenstraße zur Grenze eilen, die Stadtwache ihre morgendliche Runde dreht, der weiß-braune Mischling um den gelben Kiosk läuft, beginnt ein schöner Tag.

2. Slubice liegt nah. Ostbahnhof Berlin. 9 Uhr morgens. Vorsicht am Gleis zwei. Ein Zug fährt ein. Der Regionalexpress rauscht. Die Schienen sind kaum zu spüren. Beim Schaffner erhalten Sie Chips für alkoholische Getränke. Zwischen Viadrina-Professoren, Studenten, Zeitungsredakteuren und Kulturschaffenden, die täglich mit dem RE 1 von Berlin nach Frankfurt (Oder) und zurück pendeln, sitzen einige Reisende auf dem Weg nach Rußland, polnische Arbeiter fahren nach Hause, bunt gekleidete Rentner begeben sich auf einen Fahrradausflug. Nach einer Stunde sind sie da. Vom Bahnhof kann man laufen: den Berg hinunter, am Oderturm links, bei McDonald's rechts. Ein Taxi zur Brücke kostet 4 Euro. Eine Busverbindung gibt es nicht.

3. Slubice ist europäisch. Am Rande der Volksrepublik Polen lag die Stadt lange Jahre abgeschnitten vom Rest der Welt, an einer Grenze des Krieges, der „Grenze des Friedens", an einem Strom der Isolation, der „Strom der Freundschaft" genannt wurde. Slubice feiert in diesem Jahr sein 56-jähriges Jubiläum. Nun liegt die Stadt friedlich an der Außengrenze der Festung Europa, auf der Stadtbrücke spielen Bulgaren melancholisch deutsche Schlager, polnische Taxifahrer warten Karten spielend auf Kundschaft aus Frankfurt/Oder, am Collegium Polonicum studieren Deutsche und Polen die Geschichte und Gegenwart Mitteleuropas.

Foto: Knut Hildebrandt

4. Slubice lebt. Es gibt Leute, die behaupten, Slubice sei wie Italien. Im Vergleich zum tristen Bunt Frankfurts, zu den leeren Straßen der deutschen Stadt, herrscht in Slubice mediterranes Klima. An der Promenade weht ein warmer Wind, die Sonne scheint bis in den Abend, Kindergeschrei auf der Straße, trocknende Wäsche auf den Balkonen. Die Diskothek bebt nach der Fastenzeit bis tief in die Nacht.

5. Slubice ist farbig. Am Bermudadreieck steht das „Lubuszanin". Das vormalige Offizierskasino der polnischen Armee lädt in gediegenem Chic zum Roulettespiel, im noblen Restaurant blickt Hermes von der stuckverzierten Wand, die Bar ist immer leer. Schräg gegenüber erstreckt sich ein Siebziger-Jahre-Komplex, in der Mitte führt ein schmaler Gang ins „Belfast", ein dunk-les irisches Restaurant mit polnischer Küche, in der Ecke lodert ein Kamin, die Kellner starren in den Fernseher. In den Abendstunden öffnen sich die Türen zum „Copa Cobana", der blau glitzernden Disco, in der freizügig gekleidete Frauen und sportliche Männer vor einem großen Spiegel zu Dancefloormusik tanzen. An der dritten Seite des Platzes steht das Hotel Polonia, in dem man auch stundenweise verweilen kann. Im Eingangsbereich erschlägt den Besucher eine braun gebeizte Täfelung, im Restaurant bedient der Koch, das Essen schmeckt nach vergangenen Zeiten.

6. Slubice boomt. Hunderte Taxifahrer, ein Markt mit 1000 Ständen, dutzende Friseure, Zigarettenladen an Zigarettenladen, ein Ring von „Gesellschaftsagenturen" an der Peripherie. Eine Sonderwirtschaftszone hinter der Stadt. Slubice blüht. Doch die Hochzeit ist längst vorbei. Der Markt bleibt mal leer, mal wird er von kleineren Gruppen sich ratlos umblickender Deutscher durchströmt. Die Inhaber von Tabac Shops stehen wartend in der Tür, in Friseursalons wird getratscht, die Kundschaft bleibt aus, in der Sonderwirtschaftszone stehen drei Betriebe auf weitläufigem Grund.

7. Slubice ist gebrochen. Die Straße der polnischen Armee geht nahtlos in die Allee der polnischen Jugend über. Sie führt vorbei am Platz der Freundschaft zur Oder, hinaus aus der Stadt. Sie ist gesäumt von drei schräg versetzten Supermärkten, die sich hinter einem ausgedehnten Parkplatz erstrecken. Die Führung der alten Straßenzüge ist nicht mehr zu erkennen, Giebel zeugen von ihrem Verlauf, irgendwo hinter den Freiflächen stehen wieder einige alte Häuser. Ein Zentrum ist nicht zu erkennen. Nur die Narben einer gebrochenen Stadt.

8. Slubice ist jung. Im April 1945 tobten die letzten Kämpfe des großen Krieges in den Straßen der Dammvorstadt. Auf dem Rückzug in die Festung Frankfurt sprengten deutsche Soldaten die alte Brücke. Gerade als die Rote Armee beide Ufer der Oder besetzt hatte, kehrten einige Bewohner der Dammvostadt zurück in ihre Häuser, kam die erste Delegation aus Poznan, um eine polnische Verwaltung aufzubauen. Der Gründungsakt von Slubice war die Ausweisung der Deutschen. Die folgenden Jahre waren ein verzweifelter Kampf um neue Bewohner, um Nahrung, die Wiederbelebung einer Stadt, die nicht mehr existiert, die Erstehung einer kleinen polnischen Stadt.

9. Slubice ist wild. Quietschende Reifen vor dem „London Pub", grölende Jugendliche in der Ulica Mickiewicza, Hip-Hop-Beats hinter weißen Gardinen, krähende Vogelschwärme, das Tuckern der Auspuffe in der Schlange zur Grenze, ein Durchbruchversuch, schimpfende Touristen, das Bellen der Straßenköter, entfernte Schüsse, Plastiksprengstoff im Hotel Polonia, Bestechungsversuche am Zollterminal, Gesten der Macht. Ohnmacht.

10. Slubice ist polnisch. Mintfarbene Fensterrahmen in der Straße der Arbeitereinheit als Verschönerungsmaßnahme. Der Kiosk an der Ecke als Tante-Emma-Laden. Die Litfaßsäule am Straßenrand als Ort der Kommunikation. Der sonntägliche Spaziergang mit dem Kinderwagen über den Platz der Freundschaft als kleinstädtisches Ritual. Die Fernwärmeleitungen zwischen den Häusern als verbindendes Element. Die Schlange vor dem Lottoladen als Zeichen der Hoffnung. Kühlschränke auf Fahrradpedalen über die Grenze geschoben als Wohlstandstransfer. Der Stolz auf europäische Plaketten und Diplome als identitätsstiftende Geste. Das 1924 erbaute Kino „Piast" als Hort des amerikanischen Films. Die Angst vor Fremdem als Schutzmechanismus. Die gutmütige Gemächlichkeit als Ausgleich für alles.

Felix Ackermann

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