Ausgabe 05 - 2002 berliner stadtzeitung
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Letzter Halt vor dem Osten

Frankfurt/Oder, der Zwischenstop vor der Grenze, wollte immer schon eine richtige Stadt werden

Fotos: Knut Hildebrandt

Seit den siebziger Jahren lebte Frankfurt/Oder einem Traum. Großstadt wollte es werden, 100000 Einwohner groß, irgendwie attraktiv und bedeutend. 25 Jahre nach dem Krieg schien es plötzlich zu klappen: Vor der Stadt wuchs Industrie, das wichtigste Halbleiterwerk der DDR mit 8000 Beschäftigten. Auf einem Hügel über dem Fluß entstand der Stadtteil Hansa-Nord, die Plattenbaukarrees heißen Prager, Warschauer, Moskauer und Witebsker Straße und markieren eine neue Zeit. Jährlich legte Frankfurt um 1000 Einwohner zu, 1989 zählte es rund 87000, so hätte es weiter gehen können.
Freilich wurde die Stadt vom Wachsen allein nicht schön, aber was heißt das. Seit Jahrhunderten war Frankfurt nur ein Zwischenstop, von Osten her der letzte Halt vor Berlin. 1945 verschanzte sich deshalb Hitlers letzes Aufgebot so lange hier, bis aus dem preußischen Regierungsplatz und Garnisonssitz ein Trümmerfeld wurde, dazu eine geteilte Stadt an der Grenze zu Polen. Später wurde Frankfurt zwar Bezirksstadt. Aber mehr als blasse Wohnblöcke beiderseits der zentralen Hauptstraße, nun Karl-Marx-Straße, waren auf den Ruinen kaum entstanden.
Solange es wuchs, tröstete sich Frankfurt über seine karge Anziehungskraft damit hinweg, früher einmal Universitätsstadt gewesen und den Dichter Heinrich von Kleist beherbergt zu haben. Auch erhielt das seit Kriegsende am Stadtrand verlorene Kleist-Theater die Zusage für einen Neubau im Zentrum, und zu den Arbeiterfestspielen 1988 spendierte die Regierung eine Fußgängerzone aus kleinen, heimeligen Plattenbauten mit Giebelimitaten. Dann kam 1989.
Heute, 13 Jahre später, stehen im Wohngebiet Hansa-Nord viele Blöcke vor dem Abriß. Trotz des Blicks auf große Zierkirschbäume steht jede dritte Wohnung leer. Stadtweit sind es 18 Prozent. Im Stadtteil Neuberesinchen hat der Abriß unter den Namen „Rückbau“ und „Modellprojekt“ schon begonnen. Von sieben Sechsgeschossern mit 304 Wohnungen sollen immerhin vier erhalten bleiben, wenn auch zwei Etagen niedriger, das sind noch 102 Wohnungen. Auf die Brache kommt ein Parkplatz, der Rest der Fläche wird für eventuelle Neubauten aufgehoben. Falls bessere Zeiten kommen. Das Projekt bringt Fördergelder, die kann Frankfurt brauchen.
Die Stadt ist heute eine jener ostdeutschen Kommunen, deren Bankrott und Entvölkerung unaufhaltsam scheinen. Nur noch 70000 Menschen leben hier. Fast jeder Fünfte rudert erfolglos auf Arbeitssuche, nachdem vom Halbleiterwerk nur ein Forschungsinstitut für Halbleiterphysik blieb. Die Stadt ertrinkt in Schulden. Da feierte sie als Erfolg, daß sie im Vorjahr statt 88 nur 81 Millionen Euro neue Schulden aufnehmen mußten. Immerhin, der Theaterneubau wurde vor zwei Jahren fertig. Bloß waren da die Schauspieler, Tänzer und Sänger bereits entlassen, allein das Orchester lebt noch. Selbst die Fußgängerzone mit ihren Giebelimitaten steht halb leer. Denn jahrelang holten die Frankfurter alles, von Benzin und Wurst über den Haarschnitt bis hin zum Zement, billig vom anderen Ufer der Oder, auf den Grenzmärkten in Polen.
Doch ist es eben die Grenze, die Frankfurt heute eine erste zaghafte Blüte nach der Wende beschert. Der Grenznähe wegen haben einige Idealisten die frühere Universität Viadrina wiederbelebt. Heute erzeugt die Uni an beiden Ufern positive Schlagzeilen. Sie zieht gut 4000 Studenten hierher, die eine neue, kleinteilige Stadtkultur schaffen und bereit sind, den offenen Weg nach Osteuropa zu nutzen. Sie sind der erste Halt für deutsche Kontakte dorthin. Die Grenze hat Frankfurt auch zur Durchgangsstadt gemacht, mit einem riesigen Zollverkehr auf der Autobahn und demnächst einem polierten Bahnhof. Schon pendelt alle halbe Stunde ein Zug nach Berlin und macht Frankfurt zum Vorort der Hauptstadt.
Zugleich gewinnt die Stadt sich selbst zurück. Es gibt wieder ein Kino und Cafés, die zerbombte Marienkirche trägt wieder Türme. Seit kurzem lockt eine Einkaufspassage die Leute von der grünen Wiese ins Zentrum zurück, auch wenn der Bau einer Fischbüchse ähnelt. Viele sind zwar in Eigenheime ins nächste Dorf abgewandert, nutzen Frankfurts Infrastruktur jedoch wie zuvor. Was der Stadt noch fehlt, ist Arbeit.
Seit einem Jahr aber hat Frankfurt wieder einen Traum – den einer neuen Industrialisierung. Ein Investor aus Dubai baut nun eine Chipfabrik für 1,3 Milliarden Euro, ausgerechnet hier, weil das Physikinstitut und die Leute vom früheren Halbleiterwerk schon da sind – ein Glücksfall rechtzeitig zur 750-Jahrfeier der Stadt 2003. Um die 1500 Stellen haben sich schon 3000 Fachleute und 1000 Lehrstellenbewerber be-müht. Jetzt hängt alles am Geld sowie an einer Bürgerinitiative, die die Fabrik aus Umweltgründen nicht liebt. Ob der Traum sich erfüllt, ist offen.

Stefan Kerner

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