Ausgabe 05 - 2002 berliner stadtzeitung
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Ich kann kein Stück über Helmut Kohl machen

Kunst & Politik (V): Johann Kresnik über politisches Theater

Foto: Mathias Königschulte

„Darüber sollten wir im Theater neu nachdenken: Was ist eine sozialistische Demokratie?"

Johann Kresnik, geb. 1939, wurde 1968 Ballettdirektor in Bremen, war von 1979 bis 1989 in Heidelberg tätig und danach wieder in Bremen, ehe er 1994 mit seiner Compagnie an die Volksbühne in Berlin wechselte. Die will sich sein Choreographisches Theater ab der kommenden Spielzeit nicht mehr leisten. Als letzte Produktion hatte Anfang 2002 Picasso Premiere.

Politisches Theater: Was hieß das 1968 in Bremen und was kann das im heutigen Berlin noch bedeuten?

Auch Brecht hat die Situation in der Politik nicht verändern können. Man kann heute mit politisch denkendem Theater Meinung bilden, man kann das Publikum zur Diskussion bringen, untereinander und überhaupt. Man kann die Fehler einer Demokratie, in der wir angeblich leben, zeigen. Die Politik machen heute Wirtschaft und Industrie und nicht Herr Schröder. In der Kultur müssen wir da tief eingreifen. Von nicht-politischem Theater halte ich gar nichts.

1968 war ja ein Aufbruch nicht nur in der Kultur. Man hat sich gegen die Eltern gewehrt, gegen die nationalsozialistische Erziehung, gegen die vielen Übrigbleiber, ob das Lehrer waren oder der Ministerpräsident Filbinger. Man wollte die einfach weghaben, man wollte sich befreien von den Eltern damals. Dann ging es gegen Vietnam, gegen die Atombombe, gegen die Notstandsgesetze. Es kam ziemlich viel zusammen, und da hat das Theater dann mitgezogen.

Das hat dann dazu geführt, daß wir z.B. die Dramaturgie von Schwanensee vollkommen umgestaltet haben. Ich habe Schwanensee AG gemacht mit Yaak Karsunke. Wir haben gezeigt, daß die Schwäne keine Schwäne mehr sind, sondern Fabrikarbeiterinnen und daß jeder einen Prinzen tanzen darf, wie er will. Das waren große und wichtige Nebenerscheinungen, neben der sogenannten Kulturrevolution.

Damals hat man ja auch mit Mitbestimmungsmodellen an den Theatern experimentiert. Welche Erfahrungen haben Sie damit gemacht und was ist davon geblieben?

Man hat ja das Mitbestimmungsmodell von Palitzsch in Frankfurt gesehen und hat am Anfang gedacht, das klappt. Leider ist es aber so, daß ans Theater eine kleine Theaterdiktatur gehört. Wir leben von Subventionen, und irgendjemand muß sagen: Am 21. Januar ist Premiere. Da hängt ein ganzer Apparat dran, das muß funktionieren. Beim Mitbestimmungsmodell hat sich gezeigt: Jeder wollte einen anderen Regisseur, jeder wollte ein anderes Stück, jeder wollte es anders machen. Das funktioniert nicht. Daß bei einer Inszenierung eine gewisse Mitsprache herrschen kann, ist überhaupt kein Problem. Ich mache das mit meiner Gruppe seit '68. Ich war der erste, der allen die gleichen Verträge gegeben hat. Ich habe früher auch einmal versucht, die Gruppe bestimmen zu lassen, wer in die Gruppe kommen soll und wer gehen muß. Das ist absolut in die Hose gegangen. Der mag den nicht und die mag den nicht. Das Mitbestimmungsmodell funktioniert überhaupt nicht.

In den sechziger Jahren hatte man wahrscheinlich das Gefühl, in einem politischen Diskurs zu stehen und mit der Theaterarbeit dazu beizutragen.

Ja.

Heute ist das ja wohl nicht mehr so.

Wir befinden uns in einer Zeit, in der das Theater von den Politikern unpolitisch gemacht werden soll. So wie Helmut Kohl es in 16 Jahren geschafft hat, alle Universitäten unpolitisch zu machen. Aus dieser Zeit stammen sehr viele sogenannte Fachkritiker für Tanz und Schauspiel. Die sind absolut entpolitisiert. Sie wollen mit Politik absolut nichts zu tun haben, geschweige, über Politik in der Dritten oder Vierten Welt reden. Stücke darüber will niemand sehen in Deutschland. Nur: Auf uns kommt die Dritte und Vierte Welt zu, der Islam, wie der 11. September gezeigt hat. Wir können diesen Teil der Welt nicht länger ignorieren. Dieses eine Drittel, das im Kapitalismus lebt, muß darüber nachdenken: Was ist mit dem Rest der Welt, warum leben wir so gut? Man darf sich nicht wundern, wenn man den Islam oder die anderen Religionen und anderen Kulturen so lange ignoriert hat, daß sich die irgendwann einmal zu wehren beginnen.

Kein Mensch weiß, daß der Irak jeden Tag bombardiert wird von den Amerikanern. Und um was geht es in Afghanistan? Um die Ölpipeline und um Gasleitungen. Überall das gleiche: Es geht nur um Kapital, Hegemonie, militärische und wirtschaftliche Macht. Heute sieht man ganz, ganz selten Stücke gegen die Belagerung von Afghanistan, gegen den Krieg im Kosovo, für den es keinen völkerrechtlichen Auftrag gab. Wieso gibt es keine Stücke? Warum gibt es kein Stück über Arbeitslosigkeit? Wieso wird der Rechtsextremismus so stark plötzlich? Wo sind die Versprechungen gegenüber dem Osten? Das sind alles Themen, die wir auch im Theater besprechen müssen, wirklich besprechen. Anscheinend bin ich das einzige Arschloch, das darüber redet.

Die Räuber von Schiller oder Die Weber von Hauptmann, das waren wichtige politische Stücke damals. Was gab es für Widerstände gegen diese Stücke! Wenn man heute so ein Stück macht, bekommt man fürchterlich eins auf den Deckel. Bloß nicht politisch werden! In Deutschland ist man ziemlich müde und einsam geworden, was politisches Denken am Theater betrifft.

Sie sind in den sechziger Jahren damit angetreten, das klassische Ballett zu zertrümmern. Das hat heute keine Sprengkraft mehr. Sie sind heute als einer der wichtigen Theatermacher anerkannt. Ist diese Ästhetik mittlerweile verbraucht?

Nein, überhaupt nicht. Wenn ich mir alte Stücke von mir anschaue und ich sehe dann neue Stücke von jungen Regisseuren und Choreographen, die ungefähr das gleiche machen wie ich damals ­ und da kommen die heute erst drauf ­ dann kann ich nicht von verbraucht sprechen. Es wiederholt sich sowieso alles. Ästhetisch sind auf der Bühne fast immer Wiederholungen da. So viel kann man sich gar nicht einfallen lassen. Aber das ist kein Problem. Man muß sich immer wieder aufraffen und kämpfen ­ nicht versuchen, sich zu etablieren. Alle, die sich etabliert haben, leben auch dementsprechend, und denen wird auch dementsprechend zugejubelt. Wenn ich an Choreographen wie Neumeier denke: Die machen nichts anderes, als Musik zu erweitern. Die haben den größten Zuspruch, von oben und unten. Weil sie bequem und einfach sind. Damit ist Kultur erfüllt für viele. Und verbrauchen soll sich das Theater so schnell wie möglich. Um wieder etwas Neues zu machen.

Ich hatte in den letzten Jahren Themen, die bisher noch keiner gemacht hat, von Francis Bacon bis zu Frida Kahlo, Goya und Picasso. Ich habe inhaltlich überhaupt keine Probleme, neue Stücke zu entwerfen. Oder ich greife zurück, wie jetzt in Dresden, auf Hans Henny Jahnn, Trümmer des Gewissens, wo es um Genmanipulation und Wissenschaft geht, und Straßenecke, wo ein Schwarzer umgebracht wird. Das sind Themen, die Jahnn schon in den dreißiger und fünfziger Jahren gesehen hat. Auch Heiner Müller kann für das politische Theater wieder aktuell werden. Aber die Tendenz geht eher dahin, keine Politik auf der Bühne zu zeigen. Gezeigt werden verkrampfte, familiäre, persönliche Situationen. Die werden uns aber nicht weiterhelfen.

Ich kann kein Stück über Helmut Kohl machen. Da wüßte ich gar nicht, was ich machen soll. Das wird einfach langweilig. Ich kann ein Stück über die Globalisierung machen. Oder wenn jetzt deutsche Soldaten nach Israel geschickt werden: Darüber kann ich etwas machen. Oder: Der PDS wird es leider Gottes genauso gehen wie den Grünen. Die sind olivgrün inzwischen. Von der Grundidee, über eine sozialistische Demokratie nachzudenken, wird nichts mehr übrigbleiben. Darüber sollten wir vielleicht im Theater neu nachdenken: Was ist eine sozialistische Demokratie?

Sie haben in den letzten Jahren viel in Lateinamerika gearbeitet.

Ich habe in São Paulo, in Mexico-City und in Bogotá Stücke gemacht, die inhaltlich für diese Länder bedeutend sind: in Brasilien über die Militärdiktatur '67/'68, in Mexiko über die Eroberung von Cortez. Die Eroberer in Mexiko sind bei mir nicht Spanier gewesen, sondern die Amerikaner. Was Amerika mit Mexiko macht, ist unglaublich. Und Kolumbien haben sie 1,8 Milliarden Dollar Hilfe in Waffen geliefert. Das heißt: Die linken und rechten Guerilleros haben wieder aufgerüstet. So sieht die Entwicklungshilfe der Amerikaner aus. Ich habe dort ein Stück gemacht, von dem ich nicht wußte: Wie kommt es beim Publikum an? Schauspieler sind zu mir gekommen und haben gefragt: „Kann ich eine persönliche Geschichte textlich reinbringen? Mein Bruder wurde von den Guerilleros entführt. Zuerst kam ein Finger an, dann kam ein Ohr an, dann der Kopf." Ich frage: „Kannst du damit umgehen auf der Bühne?" und er sagt: „Aber das ist die Situation, in der wir in Kolumbien leben. Es gibt keine Familie, die nicht schon jemanden verloren hat." Wenn solche Texte auf der Bühne ankommen, und da sitzen 1700 Leute, die fast weinen und anschließend darüber diskutieren, was man dagegen machen kann, dann hat man zehnmal mehr erreicht, als wenn man hier über politisches Theater nachdenkt. Das gleiche in Mexiko, das gleiche in Brasilien. Die Arbeit ist dort sehr viel emotionaler und politisch wichtiger für die jungen Leute und Studenten als hier, weil sie etwas verändern möchten. In Europa hat man das Gefühl, die Intellektuellen möchten überhaupt nichts mehr verändern. Wer will denn überhaupt noch etwas verändern außer Industrie und Wirtschaft? Hier gehen die Studenten doch kaum noch ins Theater. Die haben ihre rechten Verbindungen und ansonsten Sport im Kopf. Mehr ist ja nicht da. Es ist ja kein linker Gedanke mehr da.

Sehen Sie in der jüngeren Generation von Theatermachern Ansätze für politisches Theater, Leute, die vielleicht an ihre Arbeit anknüpfen?

Ich sehe solche Ansätze leider weder in der Literatur, noch in der Malerei, noch sonstwo ­ geschweige denn im deutschen Film. Ich habe noch keinen deutschen Film über Globalisierung gesehen. Wo ist die linke Idee geblieben? Die linke Idee, das heißt ja nicht, daß man mit Hammer und Sichel durch die Gegend rennt und meuchelt. Es geht um die Frage: Wie sollen wir weitermachen? Für mich hört das politische Denken, die Kritik an der Gesellschaft im Theater nie auf.

Interview: Florian Neuner

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