Ausgabe 05 - 2002 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Der im Fenster liegt

Wen stört Graffiti?

Berliner Wände, Chronik der Wände. Diese blank, jene mit bröckelndem Stuck!

Zwei hervorragende sind die links in Fahrtrichtung Zoo, wenn man den Bahnhof Friedrichstraße verläßt, mit einer alten ovalen Produktenwerbung, vielfach beschrieben, besungen, fotografiert, nun fährt man vorbei, reckt seinen Hals nach der Großbaustelle rings um den Reichstag und den Lehrter Bahnhof ­ hat der eigentlich schon einen Namen? Central Station? Das wäre doch was, Berlin. Nicht umsonst heißt Berlin „Spraycity". Man könnte die ausgewiesenen Graffiti-Könner mit weniger Geld, als es Sokos und Wachdienste und ähnliche Kollegen von der unsichtbaren Front verschlingen, beauftragen, dieses Betonband, das wie ein riesiges Schlüpfergummi dem Kanzleramt anliegt, zu verzieren mit ihren Schriftzügen, die keiner lesen kann, und mit ihren Characters, die keiner ausgerechnet hier vermutet. Es würde so eine weithin sichtbare Brücke geschlagen zu dem Teil des Volkes, um den sich die Vertreter doch schon allein aus Selbsterhaltungstrieb kümmern müßten: die Jugend. Wir haben in Berlin echte Koryphäen, deren Hauptwerke nun in fremden Städten zu sehen sind. Sie kommen in Berlin nicht zum Arbeiten. Hier in der Hauptstadt sind sie nur scheinselbstständig, ständig ist irgend jemand hinter ihnen her, und wenn es der Herr Schütze A. ist, Rentner, der im Fenster liegt und am allerliebsten Straftäter beobachtet, Kids eben, die mit Narrenhänden Mauern und Wände beschmieren. Ratz, batz ist er am Telefon und ruft die Sonderkommission. Wenn sie die kleinen Missetäter am Kragen packt und zur erkennungsdienstlichen Behandlung schafft, sie auf der Wache schmoren läßt, um in den Wohnungen der Missetäter Haussuchungen in Abwesenheit der Eltern zu veranstalten, weil Gefahr im Verzug ist laut Allgemeinem Sicherheits- und Ordnungsgesetz, auf das sie sich berufen, dann ist Herr Schütze A. zufrieden, schließt seine Fensterflügel mit Blick auf S-Bahn und ehemaligen Mauerstreifen. Die an- und abgegammelte Stadtlandschaft ­ es riecht nach Restitution, ungeklärten Eigentumsverhältnissen, Oberer Finanzdirektion und dem Unaussprechlichen, wie sich jetzt die Treuhand nennt ­ ist ihm ans Herz gewachsen. Ihm gefällt dieser Blick. Es soll bleiben, wie es ist, trostlos und grau ­ da stören provokante Farben und diese jugendliche Art, die sich vor seinen Augen nicht auszutoben hat. Nach seiner Meinung gehört sie auch nicht in Luftschutzbunker, wo eine große Volkspartei bzw. deren jugendlicher Flügel Techno-Parties veranstalten läßt. Selbst bei dieser einschlägigen und im bürgerlichen Heldenleben eher anstelligen Klientel kommt es zu derartigen Verschmutzungen, und der kleine Luftschutzbunker vor den Toren der Stadt mußte bereits daran glauben. Da Herr Schütze A. einmal in der GST eine Rolle spielen durfte, hängt er an derartigen Einrichtungen unter der Erde, über der Erde und auf ihr drauf, und immer wieder führen ihn seine immer seltener werdenden Ausflüge mit alten Kameraden an diese Stätten ­ und dann ärgert er sich so, daß er fürchten muß, bald seinen alten Kameraden folgen zu müssen, die nun nicht mehr an den Ausflügen teilnehmen können und die er auf dem nahegelegenen Friedhof, den auch einmal die Mauer begrenzte, nun besucht.

Schütze A. schließt seine Fensterflügel und schlägt die Tageszeitung auf. Befriedigt liest er: „Graffiti ­ Sprayer erwischt. Eine Zivilstreife nahm in der Nacht zum Sonnabend in Weißensee einen achtzehnjährigen Graffiti-Sprüher auf frischer Tat fest. Der junge Mann hatte an der Malchower Chaussee/Darßer Straße eine Brückenwand und einen Brückenpfeiler beschmiert". Eine Zivilstreife!

Unsere tapferen Männer, denkt er, und liest mit Befriedigung etwas tiefer, daß der Ausgabe Prospekte beigelegt wurden. Er streicht sich die besonders günstigen Angebote von Außenwandfarbe an. Das Frühjahr kommt, und er will gewappnet ein. Seine Balkonfarbe, ein sattes Russengrün, das sich entsprechend abhebt von den blaßweißen Gestaltungen der übrigen Balkone seines Mietshauses, beginnt zu verblassen. Dreist, wenn der Rechtsstreit mit seinem Vermieter schwelt, er läßt sich da nicht reinreden.

Schütze macht sich auf den Weg zu der großen Halle mit den günstigen Angeboten von resedagrüner Außenwandfarbe, der aber noch eine Art khakigrün beigemengt werden muß, um den Farbton zu erhalten, der schon an den Balkonwänden dran war, als Schützes eingezogen sind vor fünfundsechzig Jahren. Er kommt an einem Regal mit Sprühdosen vorbei, nimmt eine grüne in die Hand, rechnet, schüttelt den Kopf.

Das viele Geld für diese Gefahr im Verzug!

Brigitte Struzyk

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  Ausgabe 05 - 2002