Ausgabe 05 - 2002 berliner stadtzeitung
scheinschlag

Diese Ausgabe

Inhaltsverzeichnis


Zur Homepage

Weddinger Refugium

Der Wedding inspiriert manche zum Dönergeschäft, andere zur Literatur

Die Buchhandlung Mackensen in der Utrechter Straße hat äußerlich nichts Ungewöhnliches an sich. Dennoch fällt sie in der Gegend zwischen Reinickendorfer und Seestraße im Wedding auf. Ist das Viertel sonst eher durch Eckkneipen, Imbißrestaurants, Kardesler Market oder Penny-Ketten geprägt, stehen bei Makkensen bis unter die Decke Bücher, viele gebundene Exemplare, schöne Stücke für Liebhaber, aber auch erschwingliche Taschenbücher. Im Kontrast zur Umgebung hat die Atmosphäre fast etwas Trotziges an sich. Es ist ruhig ­ keine aufdringliche Beratung, kein Gedränge. Wer in einem Buch lesen will, kann sich an einen kleinen Tisch mit zwei Stühlen setzen. Die Stille in den Ladenräumen rührt nicht zuletzt daher, daß sich nicht alle Weddinger ständig gegenseitig auf den Füßen herumstehen, um in großen Stapeln Literatur einzukaufen.

Als Joachim Mackensen und sein Kollege Thomas Niemann vor 19 Jahren das Geschäft eröffneten, hatten sie keinerlei Werbung gemacht ­ auch keinen Eröffnungsumtrunk organisiert ­ nichts. Sie schlossen einfach die Tür auf. Es kam kein Mensch.

Inzwischen ist das anders geworden. Mackensen ist eine eingeführte Adresse im Wedding, doch Kundschaft kommt wegen des ausgewählten Sortiments auch aus anderen Teilen Berlins.

Entgegen des Klischees, der Wedding brächte nur Schultheisskultur hervor, ist die Buchhandlung jedoch eine originär Weddinger Blüte. Bevor Makkensen und Niemann mit dem Buchhandel begannen, betrieben sie in den späten Siebzigern im Kulturzentrum Osloer Fabrik eine Buchbinderei. Ein Projekt, das sie selbst gegründet hatten. Unter anderem gaben sie Kurse in der Kunst des Buchbindens. Anschließend betrieben sie das Antiquariat in der Utrechter Straße, nahmen gebrauchte Bücher an und restaurierten alte Stücke. Doch etwas fehlte. Mackensen wollte nicht für immer auf die zufälligen Fundstücke aus entrümpelten Buchbeständen angewiesen bleiben. Er wollte Bücher anbieten, „in denen Leute ihre Gedanken zu Papier gebracht haben" und er wollte in Wedding eine solide Buchhandlung etablieren.

So eröffnete der Bibliophile wenig später nicht nur einen eigenen Buchladen, sondern gründete darüber hinaus einen eigenen Verlag. In mehrfacher Hinsicht legt er mit seiner Verlegertätigkeit verschüttete Spuren frei. So gibt er Werke vergessener Schriftsteller heraus ­ wie zum Beispiel die Prosa Alexander Solomonicas, eines rumänisch-jüdischen Autors, dessen Nachlaß verloren gegangen war. Solomonica, der in Wien und Berlin gelebt hatte und nach seiner Deportation im Ghetto von Lodz umkam, hatte zwar Texte hinterlassen, doch wußte man sie nicht zuzuordnen. Eine Wiener Literaturzeitschrift hatte den Namen lange für ein Pseudonym Kafkas gehalten. Mackensen hatte den Sohn des Literaten kennengelernt und begann mit seiner Hilfe, die übrig gebliebenen Schriften zusammen zu tragen.

Ein anderes Feld der Spurensuche ist die Archäologie der Erinnerungen an die Stadt. Die Barrikaden am Wedding, die bis vor einigen Jahren vergriffen waren, legte der Buchändler trotz ideologischer Einwände neu auf. Ausschlaggebend war der Wert der Publikation als Zeitzeugnis. Denn im Wedding gibt es diverse Orte, an denen nach dem zweiten Weltkrieg ganze Straßenzüge abgerissen wurden. Mit dem Verschwinden der Häuser werde die Geschichte ausgelöscht, meint Mackensen. Gerade die Kösliner Straße, wo 1929 der sogenannte „Blutmai" eskalierte, ist ein Beispiel für einen derartigen Kahlschlag.

Doch nicht nur Straßenzüge bewahren Erinnerungen. Der unmittelbarste Zugang zur erlebten Vergangenheit ist das Erzählen. So würdigte der Verlag das Weddinger Erzählcafé mit einer ausführlichen Dokumentation ­ eine fast schon legendäre Institution, in der Persönlichkeiten aus ihrem Leben berichten.

Für spezielle Weddinger Themen hat Mackensen ein ganzes Regal reserviert. Damit ist er wahrscheinlich der einzige Buchhändler Berlins, der diesem Thema die gebührende Aufmerksamkeit schenkt. Ob er wegen der Bezirksfusion auch sämtliche Literatur über Tiergarten und Mitte anschaffen will? Mackensen schüttelt belustigt den Kopf. Das machen andere bereits. Genauso wenig würde er umziehen. Die Gegenden im Zentrum mit ihrem kulturellen Gewimmel brauchen Mackensens Bücherrefugium nicht unbedingt. Aber der Wedding – der braucht es bestimmt.

Tina Veihelmann

© scheinschlag 2002
Inhalt dieser Ausgabe | Home | Aktuelle Ausgabe | Archiv | Sitemap | E-Mail

  Ausgabe 05 - 2002