Ausgabe 04 - 2002 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Foto: Mathias Königschulte

Das Wirkliche, das Ungeheuerliche

Zu einer Fotografie von Mathias Königschulte

Im Bild drängen sich zahllos viele Linien in eine Fläche, deshalb kann ein kleines Bild mehr Informationen enthalten als dicke Bücherbände. Das Bild siegt über den Text, weil es weniger ekelhaft ist als massige Reihen von fettleibigen Büchern.

Vilém Flusser

Man kann Bilder beschreiben. Man kann es aber auch bleiben lassen. Man sollte es eigentlich bleiben lassen. Mühsam genug kann doch nur eine tautologische Verdopplung erreicht werden. Mühsam genug ­ Hilfestellung mag ein Bildwörterbuch leisten, zur korrekten Benennung der Détails, die einer Alltagssprache nicht immer zur Verfügung stehen: Bordstein, Bordsteinkante, Hochbordstein, Rinnstein, Fahrdamm ­ die exakte Beschreibung führt schnell zu Verunklarung und Unanschaulichkeit. Je genauer eine Beschreibung, desto abstrakter. Man kann ein Bild aber auch anschauen.

Der Text bildet eine parasitäre Botschaft, die das Bild konnotieren, das heißt ihm ein oder mehrere zusätzliche Signifikate „einhauchen" soll.

Schon eine beiläufige, präzise Bildlegende, etwa „Berlin-Wedding, Herbst 2001", setzt einen Rahmen, der sich einengend auswirken muß. Das Bild wird verbucht als Illustration einer Behauptung. So und so sei das dort, sehe es dort aus.

Er weiß, daß man nie glauben darf, was man sieht, daß es keine unschuldigen, direkt lesbaren Bilder gibt.

Irgendwann ­ niemand weiß mehr genau zu sagen wann, warum und von wem ­ wurde in dieser Redaktion die Leitlinie ausgegeben, daß keine Bildlegenden zu verwenden seien. Die Fotos sollen in gewisser Weise autonom bleiben dürfen, nicht heruntergestuft werden zu Illustrationen von Texten. Keine Bebilderung. Keine Bilder als Beweis, daß etwas, daß jemand so oder so aussehe. Man kann Verbindungslinien von den Bildern zu den Texten ziehen, und umgekehrt, aber man muß das dann schon selbst machen.

Eine Autonomie behaupten, wo alles immer schon ineinandergreift und sich wechselseitig kommentiert. Das ist natürlich vergeblich.

Früher illustrierte das Bild den Text (ließ ihn klarer werden); heute belastet der Text das Bild, bürdet ihm eine Kultur, eine Moral, eine Phantasie auf; früher gab es eine Reduktion auf dem Weg vom Text zum Bild, heute gibt es eine Erweiterung vom einen zum anderen.

Dieser Text ist für das Foto zweifellos eine Belastung. Keine Chance, in diese Falle nicht zu tappen. Aber:

Welches ist der Inhalt der fotografischen Botschaft? Was übermittelt die Fotografie? Definitionsgemäß die Begebenheit als solche, das buchstäblich Wirkliche.

Was ist der Inhalt dieser fotografischen Botschaft? Wir müssen es lesen und also sprachlich damit umgehen.

Hier (im Text) besteht die Substanz der Botschaft aus Wörtern; dort (in der Fotografie) aus Linien, Oberflächen, Schattierungen.

Ich kann das Bild abstrakt lesen, sozusagen als Komposition. Es käme aber doch einem Gewaltakt gleich, es nur so zu lesen, die Frage auszublenden, was auf dem Bild denn nun eigentlich zu sehen ist.

Gewiß kommt es zwischen dem Objekt und dem Bild von ihm zu einer Reduktion: des Maßstabs, der Perspektive und der Farbe.

Ich muß zugeben, daß mir letztlich doch die Maßstäbe fehlen für eine rein formale Einschätzung der Komposition. Ich weiß nicht, was ich davon halten soll, daß der Bildausschnitt so gewählt ist, wie er nun einmal gewählt ist. Auch die Belichtung wäre ins Calcul zu ziehen. Man könnte sagen, hier beginnt die Manipulation.

Das buchstäblich Wirkliche

Schon lange werden Fotografien vor Gericht nicht mehr als Beweismittel anerkannt. Zu vielfältig sind die Möglichkeiten der Bildmanipulation. Bis hinein ins Alltagsbewußtsein hat sich das noch nicht ausgewirkt. Das ist aber eine Frage von vielleicht nur noch wenigen Jahren; bis der Durchschnittsnutzer sogenannter Unterhaltungselektronik seine Bilder selbstverständlich am eigenen Computer bearbeitet und retuschiert.

Hinschauen ist anstrengender als Anschauen, was erklärt, daß wir über alles Anschauungen und in beinahe nichts Einblicke haben.

Das Foto kam aus dem Wedding hereingeschneit und wollte sich so recht in keinen Zusammenhang fügen. Texte über den Wedding waren für die nämliche Ausgabe zwar vorgesehen, doch wollte das Bild niemandem einleuchten, ins Verhältnis gesetzt zu den Texten. Es zeigt ja vielleicht auch nichts Weddingtypisches. Die hinter Vorgärten zurückgesetzten Wohnbauten, westdeutsche Nachkriegsarchitektur, billiger Durchschnitt, haben nichts Spezifisches, und man wird sie auch in Steglitz finden können oder in Frankfurt am Main. Der Gehsteig mit dem Kopfsteinpflaster könnte vielleicht auf Berlin weisen, wo sich dergleichen länger erhalten hat. Die Autos werden dem Fachkundigen eine Datierung ermöglichen. Aber darum geht es ja nicht.

Alles in der Welt ist ein Zeichen füretwas.

Der Blick bleibt haften an diesem unglaublichen Ding am rechten Bildrand, diesem ­ ja, nüchtern betrachtet ist es ein ­ Anhänger, dieser Ungeheuerlichkeit. Ich habe das Bild wahrgenommen, indem ich unterstellte, das sei eben ein Teil der Wirklichkeit. Also: Im Wedding steht doch tatsächlich so ein Ding herum. Ich muß zugeben, daß es keine angenehme Vorstellung ist, von der Wirklichkeit solcher Dinge dort oben im Wedding auszugehen, und ich bin versucht ­ dem Foto buchstäblich vertrauend ­ zu sagen: Ich hätte nicht für möglich gehalten, daß es im Wedding, oder sei es sonstwo, solche ungeheuerlichen Gefährte gibt.

Keine Wahrnehmung ohne unmittelbare Kategorisierung

Der Passant wirkt unbeteiligt. Eben muß er an diesem ungeheuerlichen Ding vorübergegangen sein. Nichts deutet darauf hin, seine Existenz könnte ihn beunruhigt haben. Vielleicht kennt er dieses Gefährt ja, weil es häufig dort geparkt steht, wenn nicht endgültig abgestellt, vielleicht ist er alkoholisiert und einfach nicht aus der Ruhe zu bringen.

Auch der Fotograf muß dem Anblick standgehalten haben, konnte andererseits auf ästhetische Distanz gehen. Mich scheint das Bild dieses „Dings" mehr zu beunruhigen als die Augenzeugen vor Ort. Oder schafft es das Bild irgendwie, diese Beunruhigung erst hervorzurufen?

Was übermittelt die Fotografie?

Ich möchte eigentlich gar nicht wissen, was es auf sich hat mit diesem ungeheuerlichen Ding. Ich vermute dahinter etwas Unangenehmes, Wahnhaftes, Verdrängtes; etwas, was jederzeit hervorbrechen kann. Das ist die Sphäre der Amokschützen, die plötzlich und aus heiterem Himmel ihre Familie erschießen, und niemand weiß warum. Eine latente Gefahr.

Ich möchte auch nicht wissen, was sich darin verbergen mag, vermute aber unbedingt etwas mindestens Übelriechendes, Ekelerregendes. Ich glaube, dieses Gefährt ist ein Ort, an dem man einen „grausigen Fund" machen könnte, wie es in der Sprachregelung der Kurzmeldungen in den Lokalteilen heißt. Eigentlich ist dieses Bild ja schon ein grausiger Fund.

Der Fotograf mußte einfach da sein.

Dort oben im Wedding steht möglicherweise noch immer dieses ungeheuerliche Ding herum, von dem ich durch das Foto Kenntnis habe. Das ist keine angenehme Vorstellung. Es ist auch ein sinnloses Unterfangen, sich in einer Beschreibung zu versuchen. Es ist aber möglicherweise gut, davon zu wissen, auch damit zu rechnen.

Die Bilder werden immer mehr so, wie sie die Empfänger haben wollen, damit die Empfänger immer mehr so werden, wie sie die Bilder haben wollen. Das ist, kurz gesagt, der Verkehr zwischen Bild und Menschen.

Ja, und es ist Herbst. Das läßt sich auch noch sagen. Ein finsterer Tag im Berliner Norden und eine Ruhe über diesem Straßenzug, die sich nicht irritieren läßt von diesem blechgewordenen Irrsinn.

Florian Neuner

Mit: Ilse Aichinger, Roland Barthes, Vilém Flusser

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