Ausgabe 04 - 2002 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Sozialverträgliche Gentrification?

Hintergründe, Hindernisse und Perspektiven der temporären Raumnutzung

Kultur braucht Raum, öffentlichen Raum, und der wird immer knapper. Eine Lösung bieten die Zeitfenster, in denen Objekte auf ihre Verwertung warten, denn in Zeiten turbulenter Immobilienmärkte halten es die Eigentümer oft für sinnvoll, erst später über die endgültige Nutzung zu entscheiden oder die Vermarktung zu verzögern. Um die Instandhaltung zu gewährleisten und womöglich gar eine Aufwertung zu erzielen, entscheiden sich viele Hauseigentümer für eine befristete Verpachtung leerstehender Objekte. Hier kommt die immer populärer werdende temporäre Raumnutzung ins Spiel, denn auch die Kulturschaffenden wissen die Vorzüge des Arrangements zu schätzen. Immerhin zeigt die Erfahrung, daß nur die wenigsten Clubs und Kulturprojekte, oder zumindest ihre Quartiere, von langer Lebensdauer waren. Das ist normal in einer jungen, experimentierfreudigen, beweglichen (um nicht zu sagen: dynamischen) Szene, die zudem äußeren Zwängen, nämlich der Umstrukturierung ihrer Stadt, unterworfen ist. Zumindest für die angesetzte Zeit hat man einen sicheren und vergleichsweise preiswerten Standort, ist aber zugleich beweglich, um hernach neuen Trends oder Bewegungen der Szene folgen zu können.

Es liegt also auf der Hand, die Bewegung zum Konzept zu machen, und Wanderclubs wie das WMF haben das Unstete längst institutionalisiert. Auch stellt sich die Frage, ob man so planvoll dem üblichen Verwertungsprozeß zuvorkommen kann ­ nämlich erst eine Ruine mit Clubs zu bevölkern, bis sich endlich ein Investor und damit die Möglichkeit findet, die Zwischennutzer vor die Tür zu setzen. Dabei spielt auch die durch Kultur-(Zwischen)Nutzer bewirkte Aufwertung ihrer Umgebung eine Rolle, die sich in einer veränderten Sozialstruktur niederschlägt und bei Szenemachern oft Abgrenzungs- und Exodusgedanken hervorruft.

Einen Schritt weiter geht das Friedrichshainer Projekt Spielfeld, das als eine Art Dachorganisation für insgesamt zehn temporäre Galerien, Studios und Ateliers fungiert. Doch nicht nur in der Quantität der beteiligten Projekte liegt der Unterschied, auch qualitativ verfolgt man höhere Ansprüche und möchte dem reinen Immobilienverwertungsprozeß entgegentreten. Stattdessen möchte man nachhaltige Projekte entwickeln, die sich auch nach der eigentlichen Nutzungsdauer weiter halten können und engagierten Künstlern eine Brücke in die etablierte Kunstszene bauen. Beim boxion-Projekt, das nun schon im zweiten Jahr läuft, wurden im Kiez um den Boxhagener Platz – dessen Konsumnachfrage von diversen Einkaufszentren gedeckt wird – einjährige Mietverträge für leerstehende Ladengeschäfte abgeschlossen. Carmen Reiz, eine Mitarbeiterin bei Spielfeld, beschreibt das Vorhaben so: „Wir möchten die Künstler auf eigene Beine stellen." Erst Erfolge gibt es auch schon: „Vier Beteiligte aus dem ersten boxion-Jahr machen weiter." Es handelt sich um zwei Galerien, ein Mode- und ein Fotoatelier. Spielfeld ist nicht nur Generalmieter, sondern sorgt – dem Anspruch „Kulturkonsultation" entsprechend – auch für Öffentlichkeitsarbeit und Kommunikation unter den Projekten, um Synergieeffekte zu erreichen. Carmen: „In beiderlei Hinsicht war die gemeinsame Eröffnungsparty aller Läden ein großer Erfolg. Wir möchten eine Öffentlichkeit für unser Anliegen schaffen und die Teilnehmer untereinander vernetzen. Ausserdem haben wir in der diesjährigen boxion-Runde einen Schwerpunkt auf Kulturdienstleister gelegt, so daß sich auch drei Designeragenturen unter den Teilnehmern befinden. Die Resonanz ist sehr gut. Wie unsere Pendants Zentrale Moabit und Kolonie Wedding, die in ihren jeweiligen Bezirken mit den entsprechenden Quartiersmanagements zusammenarbeiten, können auch wir auf diese Art Mietsubventionen in Anspruch nehmen. Nachdem wir von der Möglichkeit einer Kooperation mit dem QM Boxhagener Platz erfahren haben, lief das prima."

Kein Wunder, ist die Subkultur doch mittlerweile zu einem für die Stadt unverzichtbaren Standortfaktor geadelt worden, und die vom Senat mit sozialverträglicher Entwicklung der anvertrauten Areale beauftragten Quartiersmanagements können so ihrer Aufgabe nachgehen. Da für den Boxhagener Platz eine pessimistische Entwicklungsprognose abgegeben wurde, die das Szenario eines Ghettos à la South-Central in Los Angeles entwarf, der tatsächlichen Entwicklung aber nicht entsprach, will das QM so wieder mit positiveren Eingriffen auf die Kiezentwicklung einwirken. Im Gegensatz zu den jüngsten Immobilien-Mauscheleien mit Tilo Tragsdorf, der gleichzeitig als Sanierungsberater und -investor agierte.

Dennoch stellt sich die Frage, inwiefern mit dem Kulturprojekt eine Aufwertung des Viertels einhergeht, die kein Elend, sondern Cafés ­ und deren Klientel ­ nach sich zieht. Carmen hält dagegen: „Friedrichshain besteht eben nicht nur aus der Simon-Dach-Straße. In der boxion-Gegend haben wir Ladenleerstandsquoten von teilweise zwanzig Prozent." Daher konnten sich die Künstler leerstehende Ladengeschäfte aussuchen, deren Eigentümer dann angesprochen wurden. Die Resonanz fiel unterschiedlich aus: Manche glaubten offenbar, den großen Reibach machen zu können (vor allem in der mittlerweile schicken Mainzer Straße), andere renovierten extra.

Eins ist für Carmen klar: „Wir wollen hier keine Entwicklung wie in Mitte, wo die Nutzer nicht einbezogen wurden und die Räume mittlerweile unbezahlbar sind. Wir wollen uns einbringen, um eine Art ‚sozialverträgliche' Gentrification zu erreichen, wenn sie schon unvermeidlich ist. Leider sind die rechtlichen Grundlagen teilweise noch nicht gegeben, so daß einige unserer Ideen von den Verwaltungen nicht genehmigt wurden. Ein flexibleres Herangehen seitens der Administrative wäre schon hilfreich." So reichte man ein Nutzungskonzept für die leerstehende Max-Kreuziger-Schule in der Boecklinstraße ein, das in die Richtung Sozialer Zentren ging, wie sie in Südeuropa weit verbreitet sind. Leider scheiterte dieses Projekt an der Bezirksverwaltung. Inzwischen ist man mit dieser aber wieder im Gespräch, es könnte also bald eine neue Nutzung des Gebäudes geben. „Wir möchten den Künstlern Starthilfe geben, so daß sie sich ausprobieren können," erzählt Carmen, „mit verschiedenen Genres, Materialien und Medien experimentieren – also eben ein ´Spiel-Feld' – und letztlich ihren Weg finden, den sie dann idealerweise selbständig beschreiten können." Der nächste Meilenstein steht schon fest: Am 6. und 7. Juli findet das boxion-Kunst- und Kulturfest statt, in dessen Rahmen unter allen Künstlern, die sich bis zum 16. Mai bewerben, ein Kunstpreis vergeben wird – vielleicht hat es die Telekom bis dahin geschafft, ISDN-Anschlüsse zu legen.

Michael Welskopf/Mark McGuire

b-sides@gmx.net

www.spielfeld.net

www.boxhagenerplatz.de

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