Ausgabe 04 - 2002 berliner stadtzeitung
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Was gerade modern ist

Nach 70 Jahren wurde Die Vielen und der Eine von
Ruth Landshoff-Yorck wiederaufgelegt

„Wissen Sie, wie wunderbar das ist, zu wissen, daß man zurück kann nach Europa?" ­ mit diesen Worten beginnt Louis Lou, die Hauptfigur des 1930 erschienenen Romans Die Vielen und der Eine einer ältlichen Amerikanerin zu erklären, warum sie Amerika verlassen will. Die Autorin, Ruth Landshoff-Yorck, konnte damals noch nicht ahnen, daß sie als Jüdin nur wenige Jahre später gezwungen sein würde, Europa den Rücken zu kehren, um im Exil in den USA den Verfolgungen der Nationalsozialisten zu entgehen.

Gut 70 Jahre nach seiner Erstveröffentlichung ist der Roman im AvivA Verlag jetzt erneut erschienen (herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von dem Literaturwissenschaftler Walter Fähnders) ­ ein später, aber notwendiger Schritt, um eine von den Nationalsozialisten verdrängte Autorin dem kollektiven Gedächtnis zurückzugeben.

Als Ruth Landshoff-Yorck mit diesem Roman debütierte, war sie im gesellschaftlichen Leben der Weimarer Republik längst keine Unbekannte mehr. 1904 in Berlin geboren, war sie im Haus ihrer Tante mütterlicherseits, die den Verleger Samuel Fischer geheiratet hatte, schon früh den damaligen Größen der Literatur begegnet. 1922 spielt sie in Murnaus Nosferatu ­ Eine Symphonie des Grauens mit, nimmt danach Schauspielunterricht bei Max Reinhardt und steht mit Marlene Dietrich zusammen in Wien auf der Bühne. Ab 1927 schreibt sie für verschiedene Zeitschriften des Ullstein-Verlags Reportagen und Kolumnen ­ „Zeitgeistartikel" (Fähnders). 1930 erscheint ihr erster Roman, ein zweiter, schon fertiggestellter, konnte aufgrund der politischen Umstände nicht mehr publiziert werden. Die Erstveröffentlichung plant der AvivA Verlag für dieses Jahr. 1933 geht Ruth Landshoff-Yorck ins Exil, zuerst nach Frankreich, dann ab 1937 in die USA, wo sie, nun in englischer Sprache, weiterschreiben und -veröffentlichen kann. 1966 stirbt sie in New York, in Deutschland bleibt sie unbekannt und ist es bis heute geblieben.

Der Roman Die Vielen und der Eine handelt von der Reporterin Louis Lou, die von ihrer Zeitung nach Amerika geschickt wird, und, so verrät schon der Titel, dort zwar von vielen Männern umschwärmt wird, aber doch nur den einen möchte, nämlich Percy, den geschäftsuntüchtigsten von sechs Enkeln eines Stahldynasten, „der doch eigentlich Bildhauer war oder eigentlich Maler oder eigentlich Golf-Spieler, oder auch Nichtstuer". Ein Liebesroman al-so? Sicherlich, vielleicht sogar einer mit einem „kaum zu überbietende[n], literarisch geradezu schlimme[n] happy end" (Fähnders), aber eben einer, der am Ende der zwanziger Jahre geschrieben wurde und dementsprechend gestaltet ist. Das Pathos des Expressionismus war überwunden, „Neue Sachlichkeit" angesagt, das Leben, wie es ist, sollte dokumentiert werden. Louis Lou ist ausgestattet mit den Attributen der „Neuen Frau" – jung, knabenhaft, hübsch und intelligent –, sie ist Reporterin und sie berichtet natürlich aus Amerika, damals einem begehrten Reportageziel. Neben dieser fast klassischen Liebesgeschichte um Louis Lou und Percy gibt es schließlich andere: z.B. die von Hugh, der „junge Burschen in Uniform" liebt und dafür beinahe von einem Matrosen gelustmordet wird, oder die von Prinz Kusmin, der nur seine Frau Maria liebt, die allerdings noch jede Menge anderer Männer und Frauen. Schlaglichtartig werden Meinungen über das, was gerade modern ist oder auch nicht, wiedergegeben, der Roman will das Lebensgefühl dieser Generation einfangen, die gar nichts anderes kennt als die Aufbruchstimmung der zwanziger Jahre.

Carola Köhler

Ruth Landshoff-Yorck: Die Vielen und der Eine, hg. von Walter Fähnders. AvivA Verlag, Berlin und Grambin 2001. 16,50 Euro

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