Ausgabe 04 - 2002 berliner stadtzeitung
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Ästhetik schafft Lebensgefühl

Ein Gesetzentwurf zur Graffitibekämpfung orientiert sich an Berlins Umgang mit Sprayern

Alltäglich beraten sich Politiker, Architekten und Stadtplaner, um den Lebensraum der rund 3,4 Millionen Berliner zu gestalten. Allabendlich setzt eine weitere Gruppe ihre Ideen zum Stadtbild ohne Absprache durch. Etwa 25000 Sprayer zählte der Kasseler Graffitiforscher Axel Thiel 1999 in Berlin.

Der Entwurf eines neuen Graffitibekämpfungsgesetzes, den der Bundesrat am 17. Januar beim Bundestag eingereicht hat, soll dem „Graffiti-Unwesen" nun ein Ende bereiten. Er fußt auf einer Gesetzesinitiative, die das Land Berlin bereits 1999 begonnen hat. Es geht darum, den Bereich der Sachbeschädigung um den Begriff der „nicht nur unerheblichen" Veränderung des Erscheinungsbildes zu erweitern. Damit soll erstmals klargestellt werden, daß GrafÞti in jedem Fall eine Straftat ist, auch wenn sich die Farbe entfernen läßt. Die Initiatoren des Antrages wollen damit laut Begründung des Entwurfes „normverdeutlichend in Richtung auf die meist jugendlichen Täter" einwirken. Aus dem Umgang mit Sprühern ist ein überregionales Politikum geworden.

Doch auch wenn breite Bevölkerungskreise sich subjektiv durch bemalte Fassaden bedroht fühlen, wie es die Initiatoren des Gesetzantrages sehen, ist Graffiti als Bestandteil der Off-Kultur nicht mehr zu übersehen – und wenn es gerade paßt, auch gern gesehen.

Selbst das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend machte vom 14. bis 16. März sein Interesse an der Szene deutlich: Unter der Schirmherrschaft Gerhard Schröders wurden Jugendliche und Jugendorganisationen aus dem gesamten Bundesgebiet nach Berlin eingeladen, um in der Technischen Universität die Jugendpolitiktage zu gestalten. Neben Verbänden wie den Jusos, der Jungen Union oder den Pfadfinderschaften fiel eine Gruppe Sprayer auf, die Workshops und Diskussionen zum Thema Graffiti veranstaltete.

Die Aktion war eines von vielen Beispielen für das öffentliche Interesse, das die junge Kunst genießt. Symbolisch für den Umgang mit den Jugendlichen war aber auch, daß die verwendeten Farbdosen festgenommenen Sprühern gehört hatten. Die gemeinsame Ermittlungsgruppe „Graffiti in Berlin", in der seit Dezember 1994 Beamte von Landespolizei und BGS arbeiten, sponsorte die Aktion mit Beständen aus der Asservatenkammer.

Die Szene befindet sich in einer schizophrenen Situation: Obwohl sie stark verfolgt wird, ist ihre Kunst Mode. Immer öfter stellen Hausbesitzer Flächen zur Verfügung. Inzwischen ist die Fassadenkunst für viele sogar zum Beruf geworden: So beschäftigt zum Beispiel die Wohnbaugesellschaft Hellersdorf seit 1999 regelmäßig erfahrene Graffitikünstler, die Fassaden und Durchgänge gestalten. Es braucht jahrelange Übung, um solche Aufträge ausführen zu können. Dafür sind legale Flächen – sogenannte „Halls of Fame" – unabdingbar, an denen die Künstler ohne Angst und Zeitdruck ihren Stil entwickeln können.

Wichtig ist für die Sprüher auch, daß diese Wände möglichst gut sichtbar sind, denn das Ziel der Bilder und Namenskürzel – im Fachjargon „Pieces" und „Tags" genannt – ist, den Künstlernamen in der Stadt bekanntzumachen. Für viele geht es um „Fame". Der Begriff bezeichnet einen ganzen Komplex an Werten, unter anderem Anerkennung der Arbeit, Respekt für die eigene Person und Prominenz in der Szene. Diese Selbstdarstellung soll – obgleich weniger anarchistisch – auch nach dem neuen Gesetzesentwurf möglich sein. Die Begründung des Antrags verweist auf den „Aktionsplan Graffiti", der für die Berliner Verwaltung konzipiert wurde. Er sieht neben Säuberungsaktionen und Sozialarbeit auch das Schaffen legaler Ausdrucksmöglichkeiten vor. Doch gleichzeitig ist an der längsten und bekanntesten Wand dieser Art das Sprühen seit Februar wieder verboten. Die Rede ist von der Mauer, die das Friedrich-Ludwig-Jahn-Sportpark vom Mauerpark abgrenzt.

Foto: Mathias Königschulte

Seitdem die Bezirksverordnetenversammlung Prenzlauer Berg 1998 die Wand für Graffiti freigab, ist sie Anlaufpunkt für Sprüher aus der ganzen Stadt. „Ich war nur mal fünfzehn Minuten weg, da war mein Piece schon übersprüht," beschreibt ein Sprayer den großen Andrang im Mauerpark. Seit Februar ist das Sprühen dort verboten. Das liegt daran, daß alle Reste der Berliner Mauer seit August 2001 unter Denkmalschutz stehen. Unklar ist allerdings, wie der Originalzustand der Wand mit vertretbarem Kostenaufwand wiederhergestellt werden soll – denn die Farbschichten haben inzwischen eine beträchtliche Dicke.

Auffällig wenig Protest kommt dazu aus Sprayerkreisen. „Ich würde mir wünschen, daß die Jugendlichen mehr auf uns zukämen," beklagt sich Hermann Matena vom Bundesministerium für Familie, Senioren Frauen und Jugend. Die Szene ist unstrukturiert und hat keine echte Lobby. Das Interesse sich politisch zu engagieren ist offenbar gering. Viele Sprüher scheinen die zunehmenden Repressionen nicht weiter zu berühren: „Die haben die Hausbesetzer und Punks aus der Innenstadt vertrieben, wir werden bleiben", kommentiert ein Sprayer die Schließung der „Hall of Fame" in Prenzlauer Berg.

Der Gesetzesentwurf stützt sich in seiner Begründung auf die Berliner Linie im Umgang mit Jugendkultur. Die scheint im Augenblick jedoch weder besonders erfolgreich noch klar strukturiert zu sein. Der Grundgedanke hinter dem Aktionsplan, nämlich Graffiti in einen legalen Rahmen zu bringen, ist den Jugendlichen nicht vermittelt worden. Vielmehr sind weite Teile der Szene verwirrt. Viele haben das Gefühl, daß sich Institutionen mit geläuterten Straftätern schmücken wollen, wenn es darum geht, Jugendliche anzusprechen – während zugleich legal arbeitenden Künstlern die Basis entzogen wird und die Verurteilung festgenommener Sprüher erleichtert werden soll. Gesprüht wird trotzdem wie gehabt. „Jedesmal, wenn ich wiederkomme, ist die Stadt wieder bunter geworden" freut sich Axel Thiel.

In einem Punkt des Antrages sind sich aber sowohl die Szene als auch die Antragsteller einig: In der Begründung des Gesetzentwurfes heißt es: „Ästhetik schafft Lebensgefühl, das schutzwürdig ist."

Jakob Kirchheimer

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