Ausgabe 03 - 2002 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Geordneter Rückzug

Die ostdeutschen Städte sterben

Von Wittenberge kenne ich wenig mehr als die lange Straße zum Bahnhof. Wochenendticket, Brandenburgkarte, Überlandbus ­ eine Stunde Pause ist immer drin. Man verläßt das Empfangsgebäude in einer Horde von Fremdlingen, Gepiercte aus Berlin oder Hamburg, Fußballfans aus Rostock manchmal, ein paar Jugendliche, die vom Wochenende in Berlin nach Hause wollen. Am Imbiß trinkt ein Einheimischer Bier. Er ist redselig: Wie schön's hier ist. Wir sollten mal in die Altstadt, den Elbhafen angucken. Und das Packhofviertel ­ es könnte die letzte Gelegenheit sein. Also los. Die Stadt ist still. In der Fußgängerzone ein paar Läden hinter Gründerzeitfassaden, teils grellbunt, teils schön gealtert. Kein Shopping-Center in Sicht, stattdessen ein neoklassizistisches Festspielhaus und eine ruhige Backsteinkirche. Gediegene Provinz ­ aber wenn man in die Seitenstraßen blickt, sieht man überall vermauerte Fenster.

Später lese ich, daß hier „Verslumung" stattfinde und das „Sanierungsziel aufgegeben" werden mußte. In Berlin bescheinigten die Planungsbehörden Gegenden wie der Schliemannstraße „Verslumungsgefahr"; das ist lächerlich. In Wittenberge ist es anders: Manche der Sträßchen des Packhofviertels sind inzwischen völlig unbewohnt. Für Dutzende von Häusern sind schon Abrißanträge gestellt. Unlängst wurden hier Szenen für einen Film gedreht, der im zerbombten Hamburg der Vierziger spielt – man brauchte die Ruinen nur etwas nachzuschwärzen. Der Unterschied zwischen Kriegszerstörung und Wirtschaftskrise scheint nicht groß ins Auge zu fallen.

Alle Warnungen kamen zu spät: Der Osten ist bereits gekippt. Die vielbeschworene wirtschaftliche Aufholjagd ist abgebrochen, bevor sie richtig begonnen hatte. Die Wirtschaft schrumpft wieder; auch die Abwanderung nimmt wieder zu. Bei den Jüngeren sollen über die Hälfte auf dem Sprung sein. Zwischen 1990 und 1998 hat Ostdeutschland schon eine dreiviertel Million Einwohner verloren, bis 2020 rechnet man mit einer weiteren Million. Hinzu kommen eine extrem niedrige Geburtenrate und das Fehlen von Einwanderern aus dem Ausland. Ein paar Zahlen: Halle, Magedeburg und Chemnitz haben nur noch ca. 80% ihrer Einwohner von 1990, Schwedt und Hoyerswerda rund 75%. Den Prognosen nach soll sich diese Tendenz noch beschleunigen. Für Wittenberge etwa sagen sie bis 2015 fast eine Halbierung der Bevölkerungszahlen von 1990 voraus. Während die Bundesregierung noch lustlos Milliarden in den Osten schaufelt, während die verarmten Kommunen verbissen an der Perfektionierung ihrer Infrastruktur basteln und die Wohnungsbaugesellschaften für die Sanierung der halbleeren Wohngebiete den Bankrott riskieren, haben ihre meisten Bewohner sich längst damit abgefunden: Die ostdeutschen Städte stagnieren, schrumpfen, sterben ab. Ganze Viertel lösen sich auf, große Teile der Innenstädte veröden, riesige Plattenbausiedlungen stehen halb leer. Kaninchen hoppeln durch ausgestorbene Straßenzüge. Fenster und Türen sind vermauert, die Geschäfte geschlossen, die Schulen leer, die Buslinien eingestellt. Die Abwasserkanäle, die auf eine Mindestdurchflußmenge angewiesen sind, drohen zu verstopfen. Ein Teil der Leute zieht nach Westen, ein Teil in die Siedlungen im Umland. Was bleibt, ist ein Rest, der sich, nach allem, was man hört, auch so fühlt. Hier geht es nicht mehr um Wachstumssteuerung, sondern bestenfalls um geordneten Rückzug. Wie könnte der aussehen?

Leider wird die öffentliche Diskussion um diese Frage ausschließlich von den klassischen Akteuren der Baupolitik geführt, von Finanzpolitikern, Wohnungsbaugesellschaften, privaten Investoren. Aus deren Perspektive stellt sich das Problem zunächst als ein betriebswirtschaftliches dar; alle Bemühungen richten sich darauf, einen stabilen Wohnungsmarkt einzurichten. Dazu gehört: Planungssicherheit, ein ausgewogenes Verhältnis von Nachfrage und Angebot und ein lukratives Mietenniveau, damit die Investoren nicht gänzlich die Lust verlieren.

Die Bundesregierung hat zu diesem Zweck zum Jahresanfang das sogenannte „Programm Stadtumbau Ost" aufgelegt. Eines der Ziele, die sie damit verfolgt, nennt man „Nachfrageumlenkung". Damit ist zunächst einmal die Eindämmung der Zersiedlung gemeint, die bisher hingenommen, ja sogar staatlich gefördert wird. So gibt es seit den Fünfzigern eine Vielzahl von steuerlichen Anreizen, mit denen jeder, der es sich leisten kann, zum Bau eines Einfamilienhauses ermutigt wird. Möglichst mit Garten, und weit draußen vor der Stadt. Die Verkehrspolitik tut ihr Übriges und müht sich wie eh und je um die Lenkung des Autoverkehrs, statt sich entschlossen an seiner Beschränkung zu versuchen. So bleibt es einstweilen bei dem unentrinnbaren Teufelskreis: Der Autoverkehr macht die Stadt unbewohnbar, also zieht der Städter aufs Land, fährt täglich in die Stadt und produziert nach Kräften Autoverkehr. Bis die Innenstädte tatsächlich unbewohnt sind und nur noch Konsum, bestenfalls noch ein paar Arbeitsplätze beherbergen, während das Land flächendeckend zersiedelt ist.

„So geht es nicht weiter!" schimpfen die Stadt- und Landschaftsplaner und proklamieren die Renaissance der sogenannten „Europäischen Stadt": dicht, zentralisiert, eine Durchmischung von Wohnen, Gewerbe und öffentlichen Räumen. In Zukunft soll nicht die Zersiedlung, sondern die bewohnbare Stadt subventioniert werden. Die Entfernungspauschale für Arbeitspendler, die vor allem den Bewohnern von Schlafstädten zugute kam, wurde schon nachgebessert. Die Grünen sägen an der populären Eigenheimzulage und anderen staatlichen Subventionen für Häuslebauer. Der Bund plant, mit seinem neuen Programm, mit speziellen Zuschüssen 35000 innerstädtische Eigentumswohnungen zu fördern. Auch ohne Einfamilienhaus soll so die bürgerliche Familie zu ihren ersehnten „eigenen vier Wänden" kommen. Und damit sie auch in der Stadt das saubere Dörflein findet, in dem sie ihren Nachwuchs aufziehen mag, fühlen sich überall selbsternannte Stadtfreunde bemüßigt, den Innenstädten mit aufwendig möblierten Spielstraßen, mit Parks, Hofbegrünungen und vielen bunten Farben etwas von ihrer Bedrohlichkeit zu nehmen.

Aber auch eine erfolgreiche Umlenkung der Nachfrage kann sie nicht auf das Niveau eines normalen Wohnungsmarktes heben. Darum will man zusätzlich das Angebot verringern. Der Fachmann nennt diesen Vorgang euphemistisch „Marktbereinigung". Für die spezielle Situation des ostdeutschen Wohnungsmarktes hat man sich ein noch schöneres Wort einfallen lassen: Es lautet „Rückbau". Im Rahmen seines Stadtumbau-Programms fördert der Bund in den nächsten zehn Jahren mit 1,2 Milliarden Euro den „Abriß leerstehenden Wohnraums", eine weitere Milliarde legen die Länder drauf. Zusätzlich fließen Hunderte Millionen in die Begleichung der sogenannten Altschulden. Damit sind die kreditfinanzierten Investitionen gemeint, die Immobilienbesitzer abschreiben müssen, wenn der Abrißbagger kommt. Insgesamt strebt die Bundesregierung den „Rückbau" von 350000 der leerstehenden Wohnungen an, das ist ein gutes Drittel. Auch Berlin will nach Auskunft der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung solche Gelder in Anspruch nehmen. Aber während hier allenfalls einzelne Plattenbauten in Gefahr sind, könnten in Halle, Schwedt oder Wittenberge demnächst ganze Viertel in Schutt und Asche fallen.

Vorgeblich verfolgt das Programm „Stadtumbau Ost" neben der Stabilisierung des Wohnungsmarktes auch städtebauliche Ziele, die mit Wettbewerben, Workshops und jeder Menge Bürgerbeteiligung definiert und ausgearbeitet werden sollen. Tatsächlich gibt es Potentiale: Hat man sich erstmal von der Vorstellung verabschiedet, daß sich Städte nur bei Expansion entwickeln können, stellen sich schöne Bilder ein. Wie die 20-Geschosser der Vorstädte irgendwann nicht mehr in langen Reihen an der Ausfallstraße strammstehen, sondern vereinzelt zwischen den Baumkronen treiben. Wie man aus bescheidenen alten Platten auf die großartige Seenlandschaft blickt, die anstelle des Braunkohletagebaus entsteht. Wie die Häuser umgebaut werden, ein paar Stockwerke niedriger vielleicht, mit frei gestalteten Grundrissen und variablen Nutzungen. Und das ist noch nicht alles: Auch der Verfall kann produktiv sein. Irgendwann wird es auch Ruinen geben, die wieder bezogen, improvisiert ausgebaut und phantasievoll genutzt werden. Was kann man mit einer innerstädtischen Bruchbude alles anfangen! Oder mit einem verfallenen Kulturpalast! Wenn das Schrumpfen der ostdeutschen Städte nicht völlig dem Ordnungswillen der Betriebswirte und Planer überlassen bleibt, könnte dort viel Raum für Phantasie entstehen.

Johannes Touché

Fotos: Steffen Schuhmann

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