Ausgabe 03 - 2002 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Ficksäue treiben Diskurs

René Polleschs kulturtheoretisches Effekttheater

Er überhäuft die deutschen Bühnen mit seinen – sich gern zu Mehrteilern zusammenrottenden – Produktionen, so daß Theater heute ihn kürzlich zum „ungekrönten Serientäter des deutschsprachigen Theaters" kürte: René Pollesch. Auch Berlin erfährt zur Zeit seine ganz eigene Pollesch-Daily-Soap. Im Prater der Volksbühne läuft ein Pollesch-Dreiteiler („Stadt als Beute"/„Insourcing des Zuhause: Menschen in Scheiß-Hotels"/„Sex"), flankiert von einem passenden Rahmenprogramm: verwandte Produktionen und Wiedergänger anderer Pollesch-Stücke.

Die Serie ist ihm Prinzip: Themen, Textzeilen werden fortwährend repetiert, ebenso wie die verschiedenen Diskursen der neunziger Jahre entnommenen Theoreme ­ nicht nur in einem Stück, in neuem Zusammenhang auch in einem zweiten, einem dritten. Solange es brauchbar erscheint. Gleichartig sind zudem die Stücke selbst und ihre Umsetzung: Es gibt keine Handlung, es gibt einen Text, der gehetzt gesprochen (respektive gebrüllt) wird ­ von jeweils drei bis vier Schauspielern, die nie wirklich genau umrissenen, dramatischen Personen zuzuordnen sind, mal scheinen sie zwei, mal vier Personen darzustellen, mal nur eine, mal Männchen, mal Weibchen.

Den Ruf, ein „kulturtheoretischer Theatermacher" zu sein, hat sich Pollesch erworben, weil all seine Stücke einen ordentlichen Wust kulturkritischer Publikationen verarbeiten: „Stadt als Beute" etwa bezieht sich auf das gleichnamige, von Klaus Ronneberger herausgegebene Buch zur Stadtdiskussion und zur Privatisierung öffentlichen Raums. „Insourcing des Zuhause: Menschen in Scheiß-Hotels" gründet sich auf die Übernahme der prägnantesten Diskurselemente aus Reproduktionskontenfälschen! Heterosexualität, Arbeit und Zuhause von Renate Lorenz/ Pauline Boudry/Brigitta Kuster. Und „Sex" ist inspiriert durch das gleichnamige Theaterstück von bzw. einigen Filmen mit Mae West. Poststrukturalistische Thesen, kulturkritische Schlagwörter, Gendertheorie, Feminismus: Das ist das Material der Pollesch-Stücke.

Der ganze theoretische Salbader wird alsdann in schöner Regelmäßigkeit (mehr oder weniger komisch) gebrochen, von den im bunten Bühnentableau herumsitzenden Schauspielern zerredet und zerbrüllt, mit den stets passenden Ausrufen: SCHEISSE! oder: DU FICKSAU! ins Delirium getrieben. Die Schauspieler hecheln, vom Regisseur getrieben, durch den Text, sie verheddern sich im monströsen Theorieschwall, müssen sich oft genug durch Sofþeure vertreten lassen. Das führt zu einer merkwürdigen Situation: Vom Publikum als Vermittler des Pollesch-Textes angesehen, unterlaufen sie fortwährend diese Erwartung und behindern das Verständnis.

Angesichts solcher Brüche erhebt sich die Frage, ob Pollesch es überhaupt ernst meint mit seinen Botschaften. Wahrscheinlich schon: Er möchte den Diskurs auf die Bühne bringen, aber die Vorgehensweise erscheint wenigstens fragwürdig. Außerdem bleiben bei ihm vom eigentlichen Diskurs häufig nur die auffälligsten Slogans, sie erscheinen so letztlich als Effekte neben vielen anderen Effekten: SCHEISSE!, die zwischendurch kurz aufbollernde Musik, DU FICKSAU!, die Videoeinspielungen. Und schon wieder: SCHEISSE!

Pollesch kann dem Publikum den kulturtheoretischen Diskurs auf diese Weise nicht vermitteln, höchstens das vage Gefühl dessen, worum es ihm geht: Irgendwer (als Individuum nicht greifbar, wahrscheinlich ziemlich unterdrückt) lebt in Scheißverhältnissen. Irgendwer (wahrscheinlich ziemlich unterdrückt) möchte: DAS nicht mehr leben! Und irgendwer (ziemlich unterdrückt) möchte auch mal sagen: DU FICKSAU! Na und? Um das zu sagen, bedarf es keiner verhackstückten Theorie.

Roland Abbiate

„Stadt als Beute"/„Insourcing des Zuhause: Menschen in Scheiß-Hotels"/„Sex" samt Rahmenprogramm im Prater, Kastanienallee 7-9, Vorbestellungen: fon 2476772

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