Ausgabe 03 - 2002 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen

Der Umbau des Arbeitsamts hat weitreichende Folgen

Während Politiker sich ihre Diäten erhöhen und Führungskräfte in der Wirtschaft immense Verdienste auf ihren Konten verbuchen, verkünden sie alle in gespenstischer Eintracht: „Wir müssen sparen." Daß im Deutschen für das sich selbst ausschließende „wir" das Wort „ihr" existiert, scheint niemandem mehr aufzufallen. „Ihr müßt sparen", müßte es eigentlich heißen, und würde man die Maßgabe dergestalt beim Namen nennen, offenbarte sich viel über den eigentümlichen Charakter des „radikalen Umbaus" der Bundesanstalt für Arbeit, der derzeit vorbereitet wird – im Gefolge des Skandals um gefälschte Vermittlungsquoten. Das Schöne an einem Skandal ist, daß anschließend irgendjemand bestraft werden darf. Und da bieten sich doch diejenigen an, die man schon längst im Visier hatte.

Daß die Behörde mogelt, haben wohl schon viele vermutet und die meisten Verantwortlichen sicher auch gewußt, wenn nicht gar veranlaßt. Daß allerdings Ineffizienz und Schlamperei, wie jetzt fast alle Medien resümieren, der Grund für die gefälschten Vermittlungszahlen sein soll, ist kaum glaubwürdig. Offiziell sind die Arbeitsämter für die Vermittlung von Arbeitsplätzen zuständig, seit langem bestand ihre Hauptaufgabe jedoch in der Verwaltung, Disziplinierung und Beschäftigung der Arbeitslosen. Gemessen wird die Behörde jedoch ausschließlich an ihren Vermittlungszahlen. Auch wenn niemand die Arbeitsämter besonders liebt, ist das einigermaßen ungerecht. In der ganzen Diskussion wird nämlich stets außer acht gelassen, daß es die Arbeitsplätze, die da vermittelt werden sollen, nicht gibt.

Die Aufregung um die gefälschten Vermittlungszahlen ist denn auch eher ein Lehrstück Schröderscher Regierungstechnik: Zunächst wird ein Skandal in Szene gesetzt oder ein vorhandener genutzt, um Handlungsdruck zu erzeugen und um anschließend das umzusetzten, was man sowieso wollte und sich bislang bloß noch nicht getraut hat. Als erstes wird Jagoda in den Ruhestand geschickt. An seine Stelle rückt für das doppelte Gehalt der rheinland-pfälzische Arbeits- und Sozialminister Florian Gerster, der sich bereits 1997 in seinem Buch Gesellschaft mit beschränkter Haftung für einen Abbau der Sozialleistungen stark gemacht hat.

In Rheinland-Pfalz hat er sich überdies mit dem „Mainzer Modell" einen Namen gemacht, das seit dem 1. März bundesweit in Kraft ist. Demnach übernimmt das Arbeitsamt für besonders schlecht entlohnte Arbeit die Sozialabgaben und erhöht so den Nettolohn. War das Modell auch nicht übermäßig erfolgreich, offenbart es doch ein bestimmtes Dogma: Einzig der Preis der Arbeit sei Schuld an den hohen Arbeitslosenzahlen. Deshalb soll ein vorläufig subventionierter Niedriglohnsektor durchgesetzt werden. Welche Auswirkungen der auf die übrigen Arbeitsverhältnisse hätte, ist leicht zu erraten.

Um die Effizienz der Arbeitsvermittlung zu erhöhen, will Gerster Leistungsprämien für seine Vermittler einführen. Indem kommerzielle Vermittlungsagenturen für zusätzliche Konkurrenz sorgen, soll zugleich der Markt seine segensreiche Wirkung entfalten: Arbeitslose dürfen demnächst einen Privatvermittler ihrer Wahl einschalten, den sie in den ersten drei Monaten der Arbeitslosigkeit allerdings selbst zahlen müssen – was bis zu 1500 Euro kosten darf. Anschließend haben sie ein Recht auf Kostenübernahme durch das Arbeitsamt von 1500 bis 2500 Euro, je nach Dauer der Arbeitslosigkeit. Der ursprüngliche Vorschlag aus dem Arbeitsministerium sah sogar vor, den privaten Arbeitsvermittlern bis zu zweieinhalb Monatslöhne zuzugestehen und diese Kosten den Arbeitslosen aufzubürden. Das war wohl selbst einigen Sozialpolitikern in der SPD zu offensichtlich asozial, so daß sie die Regelung vorläufig entschärften.

Wes' Geistes Kind Gersters Reformen sind, hat er in verschiedenen Interviews zum Ausdruck gebracht. Dem Spiegel sagte er, die Stütze für Langzeitarbeitslose solle gekürzt werden und das Arbeitslosengeld für ältere Arbeitslose beschränke sich besser auf ein Jahr. Durch solche Maßnahmen behauptet Gerster die Motivation der Arbeitslosen erhöhen zu können. Daß er mit den Alten ausgerechnet eine der schwächsten Gruppen in ihrer Existenz angreift, entlarvt sein Vorhaben jedoch als Kürzung zum Selbstzweck. Denn weshalb sollen gerade ältere Arbeitslose motiviert werden, die womöglich in ihrer Branche ohnehin gar keine Chance mehr haben?

In dieselbe Richtung zielt der Vorstoß Riesters, die Arbeitslosenstatistik zu teilen. Auf der einen Seite stünden nun Arbeitslose, die dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen, auf der anderen solche, die das nicht tun und folglich auch kein Geld mehr erhalten.

Weitreichende Folgen wird die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe haben, ein Schritt, den unisono alle Parteien propagieren. Eine Bundesratsinitiative aus Hessen und Thüringen unterstützt den Vorschlag ebenso wie die Regierung. Damit ist die Entscheidung quasi „nicht abwählbar" und der demokratischen Einflußnahme entzogen. Lediglich die Gewerkschaften haben Widerstand angekündigt.

Was in den Debatten pragmatisch daherkommt ­ aus eins mach zwei, spar Bürokratie und Reibung ­ stellt sich auf den zweiten Blick als eine Umwälzung heraus, die weit über die Organisationsweise eines oder zweier Ämter hinausreicht. Er berührt das grundsätzliche Verständnis dieser sozialen Absicherung. War die Arbeitslosenhilfe bislang eine Versicherungsleistung, steht die Sozialhilfe in der Tradition der Fürsorge. Das eine ist ein Solidarvertrag, für den der Hilfeempfänger zuvor eine Leistung erbracht hat und daher Rechte geltend macht, das andere ist dem gemeinen Verständnis nach ein Almosen. Dieser Unterschied macht sich in den Sozial- und Arbeitsämtern deutlich bemerkbar. Die Klientel des Arbeitsamts wird meist mit spürbar mehr Respekt behandelt als die des Sozialamts. Darüber hinaus macht es politisch einen großen Unterschied, ob über eine Versicherungs- oder eine Fürsorgeleistung verhandelt wird. So warf auch der Präsident des Sozialverbandes VdK, Walter Hirrlinger, die Frage auf, ob eine Kürzung erworbener Leistungsansprüche verfassungsrechtlich überhaupt haltbar ist. Denn gekürzt wird im Zuge der Reform in jedem Fall. Die neue Arbeitslosen- und Sozialhilfe wird sich aller Voraussicht nach auf dem Niveau der jetzigen Sozialhilfe bewegen. Was das zum Beispiel für Familien zu bedeuten hat, deren verdienender Teil in einem gut bezahlten Job gearbeitet hat und dauerhaft arbeitslos wurde ­ das kann sich jeder leicht ausrechnen.

Finanziell wird die Neuerung nicht allein für die Arbeitslosen ruinös – katastrophal wäre die Übernahme sämtlicher Langzeitarbeitslosen für die Kommunen. Denn nichts anderes würde die Ausgliederung der Hilfeempfänger aus dem Arbeitsamt bedeuten. Wie sollen benachteiligte Regionen, die ohnehin bereits chronisch mit der Finanzierung ihrer Sozialämter überfordert sind, dafür aufkommen? Man stelle sich diese Situation in Berlin vor, einer Stadt, in der die Sozialhilfe in manchen Bezirken noch nie wirklich zu bezahlen war und traditionell mit geschönten Haushalten operiert wird, um die unvermeidlichen Fehlbeträge zu verstecken. In Neukölln zum Beispiel lebt eine relevante Bevölkerungsschicht dauerhaft von der Sozialhilfe und wird in absehbarer Zeit über kein anderes Einkommen verfügen. In Gesamtberlin sind acht Prozent der Bevölkerung auf die Hilfe angewiesen, ein großer Anteil davon sind Kinder. Und bereits jetzt – jeder weiß, wie es um den Berliner Haushalt bestellt ist – verlangt Finanzsenator Sarrazin das fast Unmögliche: daß an den Sozialausgaben erheblich gespart werden soll, von denen die Sozialhilfe den Bärenanteil ausmacht. Die Finanzverwaltung rechnet den Bezirken ihre unterschiedlichen Pro-Kopf-Ausgaben vor – um zu ermitteln, an welcher Stelle zu viel Geld fließt. Als das „Modell Balzer" wurde bereits der Kurs eines Sozialstadtrats aus Reinickendorf bezeichnet, der durch umfassende Kontrollen und Arbeitsvermittlung in der Sozialhilfe zweistellige Millionenbeträge eingespart hat. Ein maßgebliches Exempel? Doch Balzer selbst räumt ein, daß unterschiedliche Bezirke auf eine unterschiedliche Sozialstruktur zu reagieren haben – daß Reinickendorf nicht mit Neukölln oder Mitte zu vergleichen ist. Und daß es weder Sinn habe, Menschen mit Aufforderungen zur Arbeit zu drangsalieren, die ohnehin keine Chance auf eine Stelle haben, noch an einem Bedarf zu kürzen, der nun einmal vorhanden ist.

Doch in der öffentlichen Debatte geraten die Sozialhilfeempfänger zum Sparpotential. Ebenso ergeht es den dauerhaft Arbeitslosen.

Der Geist dieses Diskurses ist zunehmend der, daß diejenigen, die vom Arbeitsprozeß ausgeschlossen sind, nicht mehr als Gesellschaftsmitglieder begriffen werden, für die eine Solidargemeinschaft von Teilhabenden Verantwortung trägt – weil Kapitalismus immer auch Armut und Arbeitslosigkeit hervorbringt – sondern als Almosenempfänger. Der Umbau der Bundesanstalt für Arbeit, durch den sämtliche Langzeitarbeitslosen in die Sozialhilfe geraten, ist nichts anderes als der Abschied vom rheinischen Kapitalismus, der sogenannten „Sozialen Marktwirtschaft". Durch den ehemaligen Solidarpakt versichert wird nur noch sein, wer kurzzeitig aus dem Arbeitsprozeß ausscheidet. Wer langfristig ausfällt, ist draußen. Die sogenannte „Sockelarbeitslosigkeit", die einst als systembedingter Mangel des Kapitalismus begriffen wurde, quasi als Betriebsfehler, den man auszugleichen hatte, gilt nun wieder als persönliches Versagen des Einzelnen. Oder als Faulheit, die bestraft werden muß. Almosen sind keine Selbstverständlichkeit. Schon gar nicht, wenn die Kasse leer ist, und sei's, weil der Schatzmeister gerade das Gold verwettet hat.

Larissa Reissner/Søren Jansen

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