Ausgabe 03 - 2002 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Die neue Mitte liegt links oben (III)

Zwischen Bundesinnenministerium und Leichenschauhaus

Vom Gerickesteg am S-Bahnhof Bellevue hat man tatsächlich den versprochenen schönen Ausblick. Hier kann man wunderbar die Zeit vertrödeln, den Enten in der Spree zuschauen oder den alleinerziehenden Müttern, die am Helgoländer Ufer ihre Kinder ausführen. Seit einigen Jahren wird der schöne Blick allerdings etwas getrübt durch das ebenso auffällige wie häßliche Dienstleistungszentrum „Der Spree-Bogen". Schlimmer noch als dessen Aussehen ist der Inhalt. Hinter den verspiegelten Fenstern verbirgt sich das Bundesinnenministerium, das hier für monatlich 1,1 Millionen Mark zur Miete untergekommen ist. Am Fuß des Gebäudes hat jemand ein Stück der Berliner Mauer aufgestellt. Offenbar hat hier ein aufrechter Moabiter damit begonnen, die Ministerialbeamten von der Außenwelt abzuschotten, um deren schlechten Einfluß auf die Menschen im Kiez einzudämmen.

Auf dem Gelände befinden sich außerdem die denkmalgeschützten Reste der ehemaligen „Provinzial-Meierei C. Bolle", die hier 1886 ihren Platz fand. Wie es sich für das „Neue Berlin" gehört, stiehlt es dem alten die Gemäuer und füllt sie mit Leere, in diesem Fall in Gestalt eines beliebigen Hotels und ein paar gastronomischer Einrichtungen, die wohl den Nerv der Bürokraten treffen. Womöglich sind diesen die Einheimischen auch gar nicht so sympatisch und sie verschanzen sich aus eigenem Antrieb im Hinterhof des Grundstückes Alt-Moabit 98-101.

Die Straße Alt-Moabit scheint hier noch lauter, zugiger und abweisender geworden zu sein als vor ein paar Jahren. Auch die Art der Geschäfte verweist nicht zwingend auf die noble Nachbarschaft. Nur die „Getränke am Spreebogen", direkt neben dem Telefonier-Center in Alt-Moabit 104a, gehen wenigstens durch ihre Namensgebung auf die zahlungskräftige Kundschaft ein. Wichtiger wäre vielleicht gewesen, Kölsch ins Angebot zu nehmen.

Gegenüber liegt ein Park namens „Kleiner Tiergarten", der Rest des ehemaligen kurfürstlichen Jagdreviers, das man 1655 auf die rechte Spreeseite erweiterte und dort zunächst „Hinterer Tiergarten" nannte. Besiedelt wurde die Gegend erst Anfang des 18. Jahrhunderts durch ausländische Flüchtlinge, die vorgaben, in ihrer Heimat aus weltanschaulichen Gründen verfolgt worden zu sein. Damals kam man damit noch durch. Sie pflanzten zwar nur Maulbeerbäume zur Seidenraupenzucht, hielten sich gleichwohl aber für die Nachfahren der Israeliten, die laut biblischer Überlieferung im „Land der Moabiter" Zuflucht fanden, weshalb sie ihre Kolonie „Terre de Moab" nannten.

Bekannt ist Moabit jedoch weniger für seine durchgeknallten Christen als vielmehr für Knast und Justiz, die sich ein paar Meter weiter östlich besonders breit machen. Es findet sich aber im ganzen Viertel zwischen Kittchen und Spree kein einziges Lokal, welches sich daran anlehnt und sich beispielsweise „Zum lustigen Henker" nennt. Stattdessen gibt es haufenweise leere Läden. Es wirkt, als wäre der ganze Kiez, in der Erwartung, Regierungsviertel spielen zu müssen, vor Schreck tot umgefallen. In Wirklichkeit sind aus dieser Erwartung heraus wahrscheinlich einfach die Gewerbemieten explodiert.

Die einzig andere mögliche Erklärung, nach der Krämer ohnehin Ganoven seien und sich daher im Schatten des Gesetzes eher unwohl fühlten, ist nicht wirklich schlüssig. Es gibt hier eine starke Drogen-Szene. Die mittdreißiger Wirtin im „Brauhaus in Moabit" erregt sich denn auch gerne über die Junkies, besonders, wenn sie es wagen, vor dem Gang auf's Klo nach einem Löffel zu fragen. Den Rest der Zeit singt sie bei Liedern von Marius Müller-Westernhagen mit. Auch hier gibt es kein Kölsch. Was das Kölsch angeht, wird man im Kiez erst in einer fürchterlichen Kaschemme in der Werftstraße fündig. Sie trägt den typisch rheinischen Namen „Zum fröhlichen Zecher". Daß sich bis hierhin schon einmal ein Ministerialbeamter vorgewagt haben könnte, ist zu bezweifeln. Der Kontrast zwischen der sozialen Wirklichkeit des Regierungsviertels und der des Kiezes ist zu kraß.

Direkt gegenüber des Knasts, zwischen Rathenower und Lehrter Straße, auf einem ehemaligen Kasernengelände, hat man im Rahmen des „Sozialen Wohnungsbaus" von 1976 bis 1981 die Heinrich-Zille-Siedlung errichtet. 1998 stufte sie der Senat als sozial besonders problematisch ein und hob die Belegungsbindung sowie die Fehlbelegungsabgabe auf. Dadurch sollte ein weiterer Absturz der Gegend verhindert werden. Die Sozialmieten heißen nämlich so, weil sie außer dem Sozialamt niemand bezahlen kann ­ jedenfalls niemand, dessen Lohn karg genug ist, um in die sozialen Behausungen einziehen zu dürfen.

Hinter der Heinrich-Zille-Siedlung ist die Welt zu Ende. Das letzte Haus in der Invalidenstraße, gegenüber der Lehrter Straße ist das Leichenschauhaus. Einen passenderen Ort hätte man nicht finden können.

Dirk Rudolph

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