Ausgabe 03 - 2002 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Schlechte Tarnung

In wenigen Punkten geben sich die Stadtplaner so einig wie beim sogenannten Modal Split. 80% öffentlicher Nahverkehr und 20% Autos in der Innenstadt ­ so lautet die Vorgabe, die der Berliner Verkehrspolitik den Anschein von Zielstrebigkeit geben soll. Nachdem sich der Senat jahrzehntelang auf prahlerische Tunnel- und U-Bahnprojekte konzentriert hatte, wird nun der effizienten und billigen Straßenbahn der Vorzug gegeben. Die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung, der nach der jüngsten Wahl auch die Verkehrsplanung obliegt, will innerhalb der nächsten Jahre die Linien 1 und 53 von der Prenzlauer Allee über die Ostseite des S-Bahnhofs Alexanderplatz bis kurz vor das Rathaus führen. Später einmal soll hier die Verbindung zur Leipziger Straße und zum Potsdamer Platz entstehen. Die beiden Linien haben einen Einzugsbereich von 120000 Einwohnern und werden, wenn sie direkt zum Alex führen, voraussichtlich weit überdurchschnittlich ausgelastet. Eine solide und vernünftige Planung, wie es scheint.

Umstritten ist nur der Streckenstumpf in der Rathausstraße. Gegenüber dem UFA-Palast plant C&A ein apartes Wohn- und Geschäftshaus mit Tiefgarage, was der Senatsbaudirektion unter Hans Stimmann den willkommenen Anlaß gibt, im Rahmen der Straßenbahnplanungen die verschlafene Fußgängerzone an den Rathauspassagen aufzumöbeln. Man möchte den Bereich „als Straße erlebbar" machen, womit natürlich eine Fahrbahn für Autos gemeint ist. Das Bezirksamt Mitte, das zwar die Straßenbahn, nicht jedoch die Straße befürwortet, organisierte eine öffentliche Diskussion. Hier wurde deutlich, wohin der Hase läuft: BVG und Verkehrsplaner haben nichts dagegen, die Tram durch eine reine Fußgängerzone fahren zu lassen. Und auch die Investoren, auf die sich die Senatsverwaltung so gerne beruft, können sich gut eine Geschäftsstraße ohne Motorenlärm vorstellen.

Das wahre Motiv für die Straßenplanung rutschte dem Vertreter der Senatsverwaltung in einem Nebensatz heraus: Die Rathausstraße sei nämlich „zerstörte, fragmentierte Innenstadt, wie in anderen ostdeutschen Städten". Aha! Es geht mal wieder gegen die viel zitierte „asiatische Weite" des Ostberliner Zentrums. An dieser unscheinbaren Stelle also soll damit begonnen werden, die Gegend um den Alexanderplatz, die in ihrer Ostigkeit als Steppenlandschaft wahrgenommen wird, mit „urbaner Dichte" zu beglücken. Wozu nach dem Stimmannschen Dogma eben Straßen nach wilhelminischem Muster gehören: Blockrand ­ Fußweg ­ Baumstreifen ­ Fahrbahn.

In einem Bereich wie den Rathauspassagen ist das so offenkundig lächerlich, überflüssig und kontraproduktiv, daß man es lieber als beiläufiges Nebenprodukt der Straßenbahnverlängerung tarnen würde. Die ist schließlich unbestreitbar sinnvoll, denn alle wollen den Modal Split. Aber ob eine millionenschwere Planung am Gemeinwohl orientiert ist oder an den ästhetischen Vorlieben einer Sekte von Nostalgikern – das wird spätestens im Planverfahren klar. Es wird über dieses Projekt viel gestritten werden.

jt

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  Ausgabe 03 - 2002