Ausgabe 02 - 2002 berliner stadtzeitung
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Ich finde, die Akademikerinnen sind arg ins Hintertreffen gekommen

Die Schriftstellerin Gabriele Tergit

Gabriele Tergit in ihrer Londoner Wohnung (1977)
Foto: Cornelius Meffert

Moabit ist ein Ort der Männer. Als Subjekt und Objekt spielen Frauen eine sehr geringe Rolle. Sie sind weder Betrüger, noch Einbrecher, noch Hehler. Weder bestechen sie, noch vergehen sie sich im Amt, sie widerstehen nicht der Staatsgewalt, noch treiben sie Landesverrat. Ihr Gebiet ist das Ewige, die Liebe und der Klatsch. Dies der Beginn eines Resümees von Gabriele Tergit, 1932 unter dem Titel Frauen im Gerichtsgebäude im Berliner Tageblatt erschienen. Sie vergaß dabei zu erwähnen, daß es seit Mitte der zwanziger Jahre sehr wohl eine Frau gab, die dort eine nicht geringe Rolle spielte: sie selbst nämlich, die als erste und einzige in dieser Zeit als Gerichtsreporterin bekannt geworden war. Seit 1924 – zuerst für den Berliner Börsen Courier, ab 1925 für das Berliner Tageblatt – berichtete sie regelmäßig aus Moabit über alle möglichen Fälle, die dort verhandelt wurden, Mord und Totschlag, Raub und Beleidigung, Heiratsschwindel und Hochstapelei, § 218 und seit Beginn der dreißiger Jahre zunehmend über das gewaltsame Aufeinandertreffen von Rechten und Linken, Nationalsozialisten und Arbeitern. Diese Texte, von Tergit selbst als „Gerichtsquatschereien" bezeichnet, bestechen durch ihre knappen und pointierten Formulierungen und zeichnen sich durch Klugheit, Ironie und feine Beobachtungsgabe aus, sind also alles andere als verquatscht.

Aber auch fürs Feuilleton schrieb Tergit, Alltagsbeobachtungen, Rezensionen, Reiseberichte, wobei sie die gesellschaftlichen Verhältnisse der Weimarer Republik ständig im Blick hat, vor allem die Frage der Frauenemanzipation. Das Verhältnis von Männern und Frauen, die Rolle der Frau im öffentlichen und privaten Leben wird von ihr immer wieder reflektiert, kritisch blickt sie hinter die Fassade der scheinbaren Erfolge für die Frauen, die doch häufig nur oberflächliche Veränderungen bringen, aber die zugrundeliegenden Strukturen unangetastet lassen. In einem Feuilleton, das 1927 unter dem Titel Die Einspännerin erschien, äußert eine Ärztin Anfang 30 gegenüber ihrer Freundin: Ach, Unsinn, man überschätzt das alles heutzutage. Als wir auf die Universität kamen, war das eine große Seligkeit, und wir hatten Ehrgeiz und wollten was leisten und hatten unsern großen Stolz. Und was ist kaum fünfzehn Jahre später? Das Girl ist gekommen. Wir wollten einen neuen Frauentyp schaffen. Wissen Sie noch, wie wir gebrannt haben vor Seligkeit, daß wir an alles herankonnten, diese ganze große Männerwelt voll Mathematik und Chemie und herrlichen historischen Offenbarungen in uns aufzunehmen. Und jetzt ist das Resultat, daß die kleinen Mädchen von sechzehn in meiner Sprechstunde sitzen, und ich schon froh bin, wenn sie nicht krank sind, und der Kopf ist nur noch zur Frisur da. Ich finde, die Akademikerinnen sind arg ins Hintertreffen gekommen.

Auch wenn Gabriele Tergits Situation äußerlich nicht der „ins Hintertreffen geratenen Akademikerin" entsprach, läßt sich diese Einschätzung durchaus auf sie beziehen, denn die Generation der Ärztin ist auch ihre. Geboren wurde Elise Hirschmann, so ihr eigentlicher Name, 1894 in Berlin als Tochter eines Fabrikanten. Sie besuchte das Lyzeum und die von Alice Salomon gegründete „Soziale Frauenschule", holte nach dem ersten Weltkrieg das Abitur nach und studierte Philosophie, Soziologie und Geschichte, nicht nur in Berlin, sondern auch in München, Heidelberg und Frankfurt am Main, wo sie auch promovierte. Sie gehörte damit zu den ersten Frauen, die von den emanzipatorischen Veränderungen der Weimarer Republik wie Wahlrecht und Zugang zur Universität profitieren konnten.

Bis 1933 schrieb sie, vor allem für das Berliner Tageblatt, aber auch für die Weltbühne und andere Zeitungen, ihre Gerichtsreportagen und Feuilletons. Sie schrieb gegen Mißstände in aller Schärfe an und registrierte die zunehmende Destabilisierung der politischen Verhältnisse, die sich eben im Gerichtssaal in besonderer Weise zeigte, in milden Strafen gegen Nationalsozialisten und einer wachsenden Ohnmacht gegenüber rechter Ideologie. Sie wußte, wie weit verbreitet in den Köpfen „faschistische Gedankengänge" waren, und sie warnte immer wieder davor, daß das ohnehin fragile politische Machtgefüge zusammenbrechen würde.

Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten wurde diese kritische, linksbürgerliche Haltung, zusammen mit ihrer jüdischen Herkunft, schnell gefährlich für sie. Gewarnt vor einem Überfall des SA-Sturms '33 auf ihre Wohnung, floh sie mit ihrem Mann Heinz Reifenberg und ihrem Sohn über Prag und Palästina nach London. Dies bedeutete das abrupte Ende ihrer journalistischen und auch schriftstellerischen Karriere (1932 war ihr Roman Käsebier erobert den Kurfürstendamm erschienen, der schnell Erfolg hatte). Den Exilanten wurde in England mit Mißtrauen begegnet, obwohl sie sich bemühte, auch auf Englisch zu schreiben, wollte niemand ihre Artikel haben. Tergit kehrte nach dem Ende des zweiten Weltkriegs nicht dauerhaft nach Deutschland zurück. 1952 erschien ihr Roman Effingers, den sie schon 1933 begonnen hatte, danach wurde sie im literarischen und kulturellen Leben der BRD wie der DDR vergessen. Sie lebte in London, war jahrzehntelang ehrenamtliche Sekretärin des Exil-PEN und starb dort 1982.

Ihr Schicksal ist typisch für eine bestimmte Generation von Künstlerinnen, die in der Weimarer Republik erfolgreich waren, aber durch ihre jüdische Herkunft, ihre politische Überzeugung oder, wie bei Tergit, beides, ins Exil gezwungen wurden und nach dem Ende des Krieges weder im Westen noch im Osten mit offenen Armen empfangen wurden, einmal, weil sie für hier zu links und für dort zu bürgerlich waren, vor allem aber, weil sie auf ihrer eigenen Meinung beharrten und keine Lust hatten, diese einem ideologischen Diktat zu unterwerfen. Erst nachdem, auch das eine Folge von '68, ein breiteres Interesse für Exil- und für Frauenliteratur einsetzte und viel historische Ausgrabungsarbeit geleistet wurde, gelang es für einen bestimmten Zeitraum, einige dieser Autorinnen und Autoren dem kollektiven Gedächtnisverlust zu entreißen und ihnen eine späte, häufig zu späte, öffentliche Anerkennung zu bescheren. Auch Tergit erlebte es noch, daß Ende der siebziger Jahre ihre Romane wiederaufgelegt wurden und man sich wieder für sie interessierte. An ihre Bekanntheit vor dem Nationalsozialismus konnte sie jedoch nicht mehr anknüpfen.

Der unermüdlichen Arbeit von Jens Brüning ist zu verdanken, daß neben den zwei genannten Romanen auch die Gerichtsreportagen und Feuilletons in Büchern versammelt vorliegen. Bisher eher verstreut in verschiedenen Verlagen erschienen, werden diese jetzt, erweitert und in neuer Zusammenstellung, in zwei Bänden vom Verlag Das Neue Berlin herausgebracht, jeweils mit Anmerkungen versehen und im Vor- bzw. Nachwort von Jens Brüning lebensgeschichtlich eingeordnet.

Erstveröffentlicht wurde zudem die Novelle Der erste Zug nach Berlin, die sich in Tergits Nachlaß befunden hat. Darin beschreibt sie die Reise einer jungen Amerikanerin durch das Nachkriegsdeutschland und läßt sie in vielen Gesprächen, aus einer eher naiven Perspektive, Fragen zur aktuellen politischen Einstellung der deutschen Bevölkerung erörtern. Manchmal jedoch fällt sie aus dieser „Rolle" und man spürt den Furor, mit dem Tergit immer noch gegen Mißstände, Verlogenheit und Oberflächlichkeit anschreibt. Diese Novelle besteht in der Hauptsache aus Dialogen, hier beweist Tergit erneut, daß darin ihre Stärke liegt. Sie kann die Dinge mit wenigen Worten auf den Punkt bringen, dadurch atmosphärisch sehr dicht beschreiben und ihren Wortwitz schnell hintereinanderreihen.

Durch ihren frischen Stil sind Tergits Texte eine kurzweilige Lektüre, manchmal ist es allerdings bestürzend, wie aktuell sie erscheinen.

Carola Köhler

Gabriele Tergit: Wer schießt aus Liebe? Gerichtsreportagen. Hg. J.
Brüning, Verlag Das Neue Berlin, Berlin 1999, 12,90 Euro

Gabriele Tergit: Der erste Zug nach Berlin. Novelle. Hg. J. Brüning, Verlag Das Neue Berlin, Berlin 2000, 16,50 Euro

Gabriele Tergit: Frauen und andere Ereignisse. Publizistik und Erzählungen von 1915 bis 1970. Hg. J. Brüning, Verlag Das Neue Berlin, Berlin 2002, 14,90 Euro

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