Ausgabe 02 - 2002 berliner stadtzeitung
scheinschlag

Diese Ausgabe

Inhaltsverzeichnis


Zur Homepage

Die Verrückte ist weg

Die Kopenhagener Straße ist farbiger und zugleich trister geworden

Eine lange traurige Straße. Oben der ehemalige Stettiner Güterbahnhof, der alte Mauerstreifen, ein zukünftiger Park – zur Zeit ein einsamer Kinderbauernhof, ein paar Lagerhäuser, Zäune, Steppe. Unten die Schönhauser Allee, von Lokalpolitikern mit albernen Bezeichnungen wie „Flaniermeile" und „Metropolenmagistrale" belegt: Ein paar dutzend Läden, einmal „Arcaden" und einmal „Carrée", das halbleere Cinemaxx. Die Gegend ist nicht reich, bei 1800 DM Durchschnittseinkommen nach der jüngsten Erhebung. Immerhin schon 370 DM mehr als noch vor drei Jahren. Die Arbeitslosen und Rentner, die Übersiedlerfamilien und Sozialhilfeempfänger aber, die diese Straßen dominierten, werden nicht reicher.

Dies ist ein Milieuschutzgebiet. Es gilt eine Mietobergrenze bis fünf Jahre nach der Sanierung. Umwandlungen in Eigentumswohnungen sind nicht erwünscht, Totalsanierungen werden nicht mehr gefördert, Grundrißänderungen oder Aufzüge oft gar nicht erst genehmigt. Seit Ende 1999 die Sonderabschreibung Ost auslief, sind die Investoren vorsichtig. Die Immobilienpreise sacken, die Genehmigungsverfahren nerven und dank der Mietobergrenze steigen die Mieten nicht so schnell, wie sie sollen. Die Tendenz geht zur Teilsanierung. Meist werden nur noch einzelne, leerstehende Wohnungen mit Etagenheizungen und Gegensprechanlagen bestückt, heimlich, damit die Stadtverwaltung die Miete nicht kontrolliert.

Dennoch: In der Nähe der Schönhauser Allee stehen die blendend weißen, bananengelben, mintfarbenen Neogründerzeitfassaden schon dicht an dicht. Auf der Hälfte der Straße sind manchmal warmgraue DDR-Töne dazwischen, nur hier, fast am Ende, sind die grellen Farben noch in der Minderheit. Mein Haus ist leuchtend rot ­ das stolze Ergebnis der jüngsten Fassadensanierung, der dritten in zwei Jahrzehnten. Schon bei der zweiten überkam uns die Sorge, Opfer kapitalistischer Fehlplanung zu werden. Auf der Treppe traf ich die alte Nachbarin:

­ Daß die Regierung das erlaubt. Unser Haus an 'nen Türken. ­ Ist doch egal. ­ Der schmeißt uns hier raus, der Gauner. ­ Der will halt Geld. ­ Scheißwessis. ­ Ich doch auch. ­ Sie sind anders.

Wir einigten uns schließlich, daß „die Reichen" an allem Schuld seien. Unser Kapitalistentürkenwessi aber war nicht reich genug und ging kurz darauf Pleite. Vor den Forderungen seiner Banken und den Nachforschungen der Polizei, die ihn mehrerer Morde verdächtigte, floh er ins Ausland. Das Haus ließ er als Baustelle zurück, halb entmietet und frisch getüncht. Vorher war da narbiger Putz gewesen, an der Straße noch intakt von der ersten Instandsetzung in den achtziger Jahren, im Hof sanft abblätternd, keineswegs bausubstanzgefährdend, aber seit dem Krieg unberührt. Hier sah man Einschußlöcher, die von der Schlacht um den S-Bahn-Graben herrührten oder auch, wenn man den wüsten Erzählungen der Nachbarin Glauben schenken darf, von einem Hinrichtungskommando der Roten Armee, das in diesem dunklen Loch alle SS-Soldaten an die Wand stellte, die in der Gegend zu finden waren.

Auf den Mieterversammlungen wurde schnell deutlich, daß solcher Wandschmuck nicht länger geduldet werden würde. Alles neu! Bunte Fassade, Zentralheizung, Balkonbrüstung aus Lochblech, der ganze Krimskrams, der am Ende 200 Prozent Mieterhöhung bedeutete. Bedeuten mußte! Einige der Nachbarn waren einsichtig. Sie hatten schon vorher „Hausieren verboten!" an der Tür stehen; nun freuten sie sich, die Schäbigkeit ihrer Nachbarschaft besiegt zu sehen. Andere protestierten ­ allerdings nur gegen den Preis.

Nach den Sanierungen wohnten zwei Drittel der Hausbewohner woanders. Zuletzt verschwand das Schreien von gegenüber. Die Verrückte ist weg! Vor vielen Jahren soll sie ihr Mann die Treppe runtergeschmissen haben, seitdem schrie sie und trank. Ganze Nächte hing sie besoffen auf ihrem Fensterbrett und brüllte Unflätiges, bisweilen auch sehr Lustiges auf die Straße – nun hat sich jemand beschwert, und sie ist in der Klapse. Die alte Nachbarin ist in eine Reinickendorfer Seniorenresidenz gezogen; der Greis unter mir starb an einem Herzinfarkt. Er war ein gelassener Mensch gewesen, und schweigsam – was nicht daran lag, daß er wenig zu erzählen hatte:

­ Haben Sie immer hier gewohnt? ­ Neenee! Früher wohnte ich in der 48, und geboren bin ich ganz vorne. Fast an der Schönhauser... ­ Wie war das hier? ­ Arm.

Die Straße wird sauber. Die Löcher im Pflaster, in denen früher in einem Dickicht von Brennesseln der Kadaver eines Fahrrads, ein Gasherd oder ein Autoreifen herumlag, wurden nach und nach mit ordentlichen Alleebäumen bestückt; sie sind jetzt mit Mulch verfüllt, einige werden von fanatischen Hauswarten allwöchentlich geharkt. Am Vitra-Museum sieht man morgens eine Angestellte die weißen Schilder putzen, die in der Nacht einen Tack abbekommen haben. Ganz ohne Zorn, eher mit dem demütigen Pflichtbewußtsein, mit dem man in Weil am Rhein sonntags die Fußwege schrubbt.

Wie sehr diese Straße schon der wohlhabenden Wohngegend meiner Kindheit gleicht, der ich in den Neunzigern entkommen wollte, bemerken als erste die Besucher von außerhalb. Sie finden alles anders als beim letzten Mal, glatter, freundlicher oder provinzieller, das hängt vom Besucher ab. Auf jeden Fall still und ordentlich. Die jungen Väter arbeiten viel; sie haben tagsüber keine Zeit und wollen abends ihre Ruhe. Ihre Frauen tragen jetzt Verantwortung und Fahrradhelme und sorgen für Ordnung auf dem Hof. Von der Schönhauser her stolzieren Guggenheim-Touristen zum Vitramuseum, einmal Exibition, dann ein Capuccino in der Museumslounge. Beim Hinausgehen blicken sie gerührt und überheblich in die leere Straße. An der Fassade gegenüber verkündet ein Transparent: „Gewerbelofts der besonderen Art".

Nach dem Baugesetzbuch hat jeder Hauseigentümer das Recht, seine Wohnungen in den „zeitgemäßen Ausstattungszustand einer durchschnittlichen Wohnung" zu versetzen. Das Verwaltungsgericht betrachtet den westdeutschen Standard als zeitgemäß und durchschnittlich, das Bezirksamt besteht auf einen Gebietsdurchschnitt, der alle paar Jahre neu ermittelt werden muß. Egal wie: Der Durchschnitt der Wohnungen nähert sich zusehends dem Charlottenburger Standard – und das nicht nur, was die Ausstattung, sondern auch, was den Preis betrifft. Nur noch ein Viertel der Wohnungen im Kiez sind für unter 6 DM pro Quadratmater zu haben. Vor drei Jahren waren es noch die Hälfte, 1995 fast 80 Prozent. Damals galt die soziale Mischung dieses Gebiets als vorbildlich.

Johannes Touché

© scheinschlag 2002
Inhalt dieser Ausgabe | Home | Aktuelle Ausgabe | Archiv | Sitemap | E-Mail

  Ausgabe 02 - 2002