Ausgabe 02 - 2002 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Dem Auge bleibt nichts erspart

Schreckensutopie ­ Henry Darger: The Realms of the Unreal

Fünfzig Jahre lang lebte er für sich, in einer Wohnung im Norden von Chicago, arbeitete als Hausmeister eines katholischen Krankenhauses und besuchte jeden Tag die Messe. Bis auf einen Priester, der ab und zu vorbeischaute, waren sein Vermieter, der am Bauhaus ausgebildete Künstler Nathan Lerner und seine Frau Kiyoko Lerner die einzigen Kontaktpersonen. Niemand ahnte, daß in dieser Abgeschiedenheit ein höchst eigenwilliges Universum entstand: auf 15000 Seiten verarbeitete Henry Darger die Welt, wie er sie vorfand und doch kaum mit eigenen Augen gesehen hatte. Sein Epos The Realms of the Unreal handelt von Krieg und Grausamkeit, Macht und Unterdrückung. Es ist von den grundlegenden Oppositionen schwarz und weiß, gut und böse grundiert: Die Glandelinians haben auf einem Planeten, von dem die Erde der Mond ist, ein schreckliches Imperium errichtet, das Kinder-Sklaverei betreibt. Nach hunderten von Schlachten fordert die christliche Nation, daß der Barbarei ein Ende gesetzt werden soll. Mit den sieben Vivian-Schwestern an der Spitze beginnt ein Kinder-Sklavenaufstand, unterstützt von den Blengins und von diversen Drachen. Am Ende siegt das Gute. Soweit der narrative Rahmen. Was Darger innerhalb dieser Schreckenswelt entwickelte, ist abstssend bis grausam für die menschliche Vorstellungskraft. Eine Serie von undatierten Aquarellen illustriert die Geschehnisse außerdem detailreich. Sein Material bezog Darger aus einer stetig anwachsenden Sammlung von Fundstücken. Darunter waren hunderte von Zeitungen, Zeitschriften und Comics, die ihm das ferne Weltgeschehen nahe brachten. Er sammelte Kruzifixe, zerbrochenes Spielzeug, tausende von Monokeln und beinahe tausend Garnrollen.

Die Aquarelle illustrieren das Werk nicht nur, sondern weisen selbst erzählerische Strukturen auf. Breitformatige Szenerien dokumentieren ohne Scheu diverse Formen von Folter. Kinder, an große Steine gebunden, werden mißhandelt, geschlagen und stranguliert. Dem Auge bleibt nichts erspart. Jedoch haben die Bilder auch etwas Ästhetisches: Der wohldurchdachte Aufbau verleiht den „Anekdoten" formal Gleichgewicht gegenüber dem inhaltlich peinigenden Aufruhr. Die leuchtenden Aquarellfarben geben dem Ganzen etwas heiter-leichtes, das jeder Ironie entbehrt. Wie Puzzleteile fügen sich die einzelnen Momentaufnahmen, die immer wieder an ein gutgemachtes Comic gemahnen, zu einer Schreckensutopie, der man als feinbesaiteter Mensch nicht auf den tiefsten Grund gehen möchte.

Unter den Horrorvisionen gibt es ein paar Ausnahmen, die das Unheil zwar in sich bergen aber nicht explizit aussprechen. Auf einer von ihnen ist eine Schar von unschuldigen Mädchen in paradiesischer Gegend dargestellt. Einige tanzen fröhlich miteinander, eines fängt Schmetterlinge, ein anderes hat neben sich einen Korb voll Blumen stehen. Sie tragen allesamt lila-gelbe Kleidchen, die farblich den riesigen, bunten Blumen und Pilzen im Hintergrund ähneln. Das einzig häßliche Mal sind die vielen schwarz ausgefüllten Augenpaare, die wie Tintenkleckse manch ebenes Gesichtchen verderben. An den Rändern des breiten Tableaus stehen kleine Jungen mit Maschinengewehren, die sie spielerisch auf die Mädchen richten. Jungen, wie Zinnsoldaten, sich ungemein ernst und wichtig nehmend bedrohen brave, liebe Mädchen. Eine scheinbar harmlose Spielerei, und doch wirkt die Szene wie ein Vorbote der grausamen Geschehnisse auf den anderen Bildern. Die Geburtsstätte des explodierenden Machtkampfes ist geschaffen.

Mareike Layer

Henry Darger in den KunstWerken, Auguststr. 69, Mitte. Die Ausstellung ist noch bis zum 31. März zu sehen

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