Ausgabe 02 - 2002 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Neue Ziele erreicht man auf alten Wegen

Ein Stadtführer aus DDR-Zeiten erzählt stur von Dingen, die es nicht mehr gibt – oder doch?

„Kaum ein anderer Platz in Berlin spiegelt in seinem Wandel die gesellschaftliche Entwicklung so wider wie der Alexanderplatz. Ausgewogen, großzügig und modern repräsentiert er heute das Zentrum des sozialistischen Berlin." Derart eingestimmt hätte man vor 15 Jahren eine Wanderung durch die Hauptstadt der DDR unternommen. Der Stadtführer Berlin zu Fuß wies einem den Weg durch eine Stadt, in der die Spuren der Geschichte auf die richtige Art gelesen werden wollten, denn „planloses Durchstreifen der Stadt, das zufällige Auffinden eines Platzes oder wahlloses Queren der Straßen führt kaum zum Ziel, Berlin [...] ohne Irrwege kennenzulernen." Nachdem eine Lesart der Geschichte nachhaltig diskreditiert wurde, beweist das Neue Berlin im Umgang mit dem Alten genauso wenig Humor wie die realsozialistische Moderne.

Als trotz heftiger Proteste das „Ahornblatt" abgerissen wurde, stieß man bei den anschließenden Bauarbeiten auf eine geologische Schichtung von Zeit. Unter den Sedimenten von 40 Jahren DDR, sechs Jahren Krieg, einigen Fußbreit Weimarer Republik und einigen Metern Kaiserzeit fand man die Fundamente eines mittelalterlichen Hauses. Für die Metropolenarchäologie übersetzen sich geschichtliche Epochen in übereinander gelagerte Erdschichten. Die jüngste archäologische Epoche Berlins ist die DDR.

Teil des Faszinosums war im Nachwende-Berlin, daß man selbst an der sichtbaren Oberfläche diese Schichtung beobachten konnte. Die Stadt trieb allerlei Stilblüten, die sich auf dem Weg in eine neue Epoche ironisieren, integrieren, oder einfach ignorieren ließen.

Mittlerweile ist die spielerische Fröhlichkeit vielerorts dahin. Ein Reisebegleiter wie der Stadtführer Berlin zu Fuß ist ein simples und wohlfeiles Mittel, die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigem wiederherzustellen. Einer, der stur von früher erzählt, als sei es heute, dessen Beschreibungen sich allerdings nicht ganz decken mit dem, was man sieht. Man steht am gleichen Ort zu zwei verschiedenen Zeiten und würde ein paar von den Merkwürdigkeiten und Widersprüchen zu Gesicht bekommen, die zu ertragen es dem Neuen Berlin an Gelassenheit fehlt.

Die Friedrichstraße sei eine der Straßen in Berlin, behauptet mein Reiseführer, die den meisten Besuchern bereits ein Begriff sind, bevor sie das erste mal in die Stadt kommen. Die Friedrichstraße steht für Glanz und Gloria, Donner und Doria Berlins, in allen
Facetten. Sie ist ein Muß. Sichtbar lastet auf der Friedrichstraße diese voreingenommene Einnahme durch Besucher, die nun einmal kommen mußten, ob sie wollten oder nicht, und nun um alles in der Welt nicht enttäuscht werden sollen.

„Neue Ziele erreicht man nicht auf alten Wegen" stellt sich uns die Werbung eines Schuhladens in der Unterführung am Bahnhof Friedrichstraße entgegen. Kaum begonnen, ist das ganze Vorhaben bereits in Frage gestellt. Und auch neue Schuhe können gegen dieses Dilemma nichts ausrichten. Der Stadtführer schweigt verlegen, ist er doch als Ewiggestriger einer, der nicht müde wird, von alten Wegen zu erzählen. Früher, meint er mit dégoutant verzogenem Mundwinkel, in den goldenen zwanziger Jahren, war die Friedrichstraße ein Zentrum des Fremdenverkehrs und des Amusements. „Bomben und Granaten haben die hier einst konzentrierten Vergnügungsstätten in Schutt und Asche gelegt." Ich nicke. „Heute beginnt die Friedrichstraße ein neues freundliches Gesicht zu bekommen." Ich schiele unter der Bahnunterführung durch auf einen der in den Bauzaun eingelassenen Bildschirme, die das „Friedrich Carrée" als zeitgemäße Version einer schönen neuen Welt preisen. In einem grob gesägten Quadrat in einer Bretterwand das Schaufenster einer Welt, in der die Stadt mit ihren Menschen zum Ausstattungsmerkmal geworden ist. Animierte Menschenimitate, Männer mit Handys und Weitblick und Frauen in crèmefarbenen Zweiteilern. Wie die Hostessen in Jean-Luc Godards zynisch melancholischem Futurama Alphaville, der vor kurzem ohne gegebenen Anlaß wieder in die Kinos kam. Ob er das meint? Aber er spricht von einer Gedenktafel, die „an den sinnlosen Tod zweier kriegsmüder Soldaten" erinnere, „die hier von entmenschten SS-Banditen ermordet wurden." Hier, das ist unter der Bahnunterführung, also hier. Auf der Suche nach der Gedenktafel laufe ich zunächst die zahlreichen auf Kniehöhe angebrachten Messingtafeln ab, die den Gebückten darüber unterrichten, wer an den Keramikarbeiten am Bahnhof Friedrichstraße beteiligt war. Beim Wechseln der Straßenseite bereits vermutend, daß die erwähnte antifaschistische Gedenktafel der fachmännischen Arbeit von Villeroy + Boch zum Opfer gefallen sei, entdecke ich sie schließlich doch. Versteckt hinter der Reklame, die nun zum zweiten Mal, mit einem schelmischen Lachen behauptet: „Neue Ziele erreicht man nicht auf alten Wegen."

„Rechts der Straße, die zur Weidendammer Brücke führt, steht der alte Admiralspalast, in dem sich das Haus der Presse befindet." Stimmt, der steht noch da, rundverpackt derzeit und demnächst runderneuert. Das Haus der Presse wird sich jedoch kaum mehr in ihm befinden. Nichts wird sich darin befinden. Oder doch? „Hier hat auch das Kabarett ,Die Distel' eine ständig ausverkaufte Spielstätte". Stimmt, „Die Distel" war da drin – und das Metropol-Theater. Nun steht im Hof ein kreisförmiger Bauzaun und warnt vor herabfallenden Fassadenteilen. Auf dem Boden hat ein Kunstrasenteppich schon so lange gelegen, daß er zu leben angefangen hat: bizarre Flechten, kuschelige Mooskissen und junge Buchentriebe tun so, als sei das Rasenimitat echt. Drei Spatzen balgen sich um eine halbe Schrippe. Wieder auf dem Bürgersteig finde ich eine Tür, die dem Druck nachgibt und tatsächlich den Blick frei macht auf die Vorverkaufskasse der „Distel". Es sitzt dort jemand hinter Glas, man kann Karten kaufen. Derzeit wird ein Stück gegeben, davon zeugt ein Plakat, auf dem vor einer Pappkulisse des Berliner Schlosses ein überlebensgroßer Schröder-Kopf gerollt wird. Vielleicht aus Wut darüber, daß die Gedenktafel nicht mehr da ist, von der der Stadtführer standfest behauptet, sie habe hier gehangen und vom Vereinigungsparteitag gekündet, der im Admiralspalast stattfand und auf dem sich SPD und KPD zur SED zusammengeschlossen hätten.

Auf dem Weg zur Weidendammer Brücke schiele ich hinüber zum Tränenpalast. Der Stadtführer schweigt dazu, versunken in den Anblick zweier Bagger, die schwerfällig im Bauschutt äsen.

Beim Anblick Brechts vor dem Berliner Ensemble denke ich an Heiner Müller und bekomme Lust auf einen Drink. Der Reiseführer verweist mich auf das Weinrestaurant „Ganymed", „von außen unscheinbar, jedoch exklusiv." Heute nicht mehr ganz so unscheinbar. Hier ist Little Cologne, die Wacht vom Rhein, „De Kölsche Römer" und die „Ständige Vertretung". Während dort die Parlamentarier, wie man annehmen darf, über ihrem Kölsch sitzen, zitiert über uns die Fassade des BE Matthias Claudius: „'S ist Krieg, 's ist Krieg. O Gottes Engel wehre und rede du darein. 'S ist leider Krieg – und ich begehre nicht Schuld daran zu sein". Der eine oder andere wird sich nach Bonn zurück wünschen, wo es zwar schon das Begehren gab, nicht schuld daran zu sein, aber wenigstens keinen Krieg.

Auf der Brachfläche neben dem Berliner Ensemble stand von 1867 bis 1985 der alte Friedrichstadtpalast. Der Strassenname „Am Zirkus" wird aus dieser Zeit noch stammen. Heute macht er stutzig und man wirft zirkussuchende Blicke erst auf das Berliner Ensemble, dann auf den neuen Friedrichstadtpalast, die sich jedoch indigniert abwenden: keiner will gemeint sein. Am Zirkus also, wo keiner mehr ist und schon lange keiner mehr war. Und auch ursprünglich keiner sein sollte, denn was 1873 die Spielwiese von Renz und seinen Tieren wurde, war einmal als Markthalle geplant und auch eröffnet worden. Erst nach 1918 wurden dann statt Tieren Menschen ausgestellt und das Ganze Friedrichstadtpalast genannt. „Martkhalle – Zirkus – Variete" bemerkt der Stadtführer spitzfindig. Die Chancen stehen gut, daß sich der Kreis bald schließt und auf der Brache etwa unter dem Namen „Zirkus-Arkaden" das entsteht, was man sich heute unter einer Markthalle vorstellt. Auf der Suche nach dem „gewissen Etwas" beziehen sich die Betreiber von Einkaufswelten ja gerne auf die Geschichte des Baulandes. Vielleicht wird es neben dem BE in gar nicht ferner Zukunft eine Shopping-Mall mit integriertem Streichelzoo und Aquarium geben, in dem als Meerjungfrauen getarnte Miss Steglitze die Flossen schwingen.

Im restlichen Verlauf der Friedrichstraße wird die Orientierung mühselig. Für das Haus Nr. 122 verspricht der Stadtführer die „Urberliner City-Klause". Aber anstelle der „City-Klause" behauptet McDonald's achselzuckend, eben ein etwas anderes Restaurant zu sein.

Keine Ur-Berliner Kneipe also hier. Aber vielleicht werden wir es noch erleben, daß in einem zukünftigen Reiseführer das „Café Zapata" im Tacheles als Ur-Berliner Kneipe emfpohlen wird ­ oder als „berlinesk".

Am Oranienburger Tor, wo die Friedrichstraße endet und in die Chausseestraße übergeht, steht kein Tor mehr. Der Reiseführer empfiehlt, die Straßenseite zu wechseln, um sich die in Pastell auf eine Hauswand gemalte Abstraktion des einstigen Oranienburger Tores anzusehen. Mit viel eigener Phantasie könne man sich dann vorstellen, wie es einmal ausgesehen habe. Die Torstraße hieß natürlich einmal Wilhelm-Pieck-Straße, bis man meinte, den ersten Staatschef der DDR durch die Umbenennung diskreditieren zu müssen. Zum zweiten mal übrigens: Als sich der Berliner Magistrat 1948 in den Westen der Stadt verlegte, wurde im Zuge des allgemeinen Reinemachens auch das Ehrenbürgerbuch der Stadt Korrektur gelesen. Unter den Nummern 59 bis 64 standen die Namen Hitler, Göring, Goebbels, Frick, Lincke und Pieck. Den Nummern 59 bis 64 wurde die Ehrenbürgerwürde wieder entzogen. Ausgenommen nur der Komponist Paul Lincke, nach dem ja immer noch ein allseits beliebtes Ufer in Kreuzberg benannt ist. Mein Begleiter zuckelt rechthaberisch mit dem Kopf und summt: „Schlösser, die im Monde liegen ..."

Kein Wilhelm Pieck also, auch kein Tor, aber Torstraße. Die Torstraße folgt ein Stück weit dem Verlauf der früheren Stadtmauer. Sie ist immer noch eine Art natürliche Grenze, fast wie ein Wassergraben, gefahrlos überquerbar nur an den Ampelfurten. Der Reiseführer heißt uns weitergehen. Wir stehen vor einer Brache, dem Grundstück Chausseestraße 121, wo Karl Liebknecht seine letzte Anwaltskanzlei hatte. „Hier erhebt sich auf einer Freifläche der Gedenkstein des Spartakus." Die Freifläche ist immer noch frei, eine Tafel verspricht jedoch baldige Baulückenschließung. Nebenan wird schon gebaut. Wieder ein Mischnutzungskoloß, Bauherrin ist die Berliner Bankgesellschaft. Dürfen die das? Wo einmal die Kanzlei von Karl Liebknecht war, haben die Arbeiter ihre Autos abgestellt. Auf der Brandmauer, die das Gelände abschließt, steht „Buchstabenhandel". Der dazugemalte Zeigefinger weist nach hinten ins Gelände, wo nicht viel zu sein scheint. Aber tatsächlich steht da hinten noch der Spartakus-Gedenkstein, allerdings erhebt er sich nicht, eher duckt er sich unter die zweistöckige Containerburg, flüstert, wie mir scheint: „Spartakus – das heißt Feuer und Geist, das heißt Seele und Herz, das heißt Wille und Tat der Revolution des Proletariats."

Tobias Hering

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