Ausgabe 02 - 2002 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Guppi-Rennen und Blumenautomaten

Wie junge Künstler sich im Beusselkiez umtun ­ und nichts sehen

Im Beusselkiez war ich schon länger nicht mehr gewesen. Das Ende des „Humpen" in der Turmstraße, dieser so gut wie immer geöffneten Kneipe, hatte der Infrastruktur des Kiezes auch einen empfindlichen Schlag versetzt. Mittlerweile ist der Beusselkiez, wo Moabit fernab der Bundesarchitektur des Spreebogens noch immer Moabit sein darf, Kunststudenten von der UdK (vormals HdK) in die Hände gefallen, die dort das Projekt „Zentrale Moabit" ins Leben gerufen haben: Seit Oktober 2000 werden leerstehende Ladenlokale in der Rostocker, Wittstocker, Hutten- und Wiclefstraße für „kulturelle Events" genutzt.

„Avantgarde und Arbeiterviertel" überschrieb die Berliner Zeitung im letzten Jahr einen Bericht über die studentischen Umtriebe in Moabit. Anwohner, denen es nicht so wichtig sei, wie Straßen und Bürgersteige aussehen, so war dort zu lesen, seien eine gute Voraussetzung für dieses Projekt. Avantgardekunst ist im Beusselkiez freilich keine zu sehen. Die „Zentrale Moabit" ist vielmehr eine Plattform für die junge, forciert ironische, spätpubertäre Berliner Kunst, die ­ von ästhetischer Qualität sollte man ohnehin besser schweigen ­ längst auch ihren Unterhaltungswert eingebüßt hat: Da werden Guppi-Rennen veranstaltet, Kunstinstallationen aus Schokoplätzchen gegessen, ein Zigaretten- wird zum Blumenautomaten umgebaut, eine Künstlerin portraitiert ihre Opfer mit verbundenen Augen, Besucher werden in Tierkostümen zu einem Event „boxen, trinken, psychoanalyse" gebeten. Am Freitagabend ist Party, und man amusiert sich über all die lustigen Ideen.

Als ich mich den von den Künstlern bespielten Straßen näherte, stieß ich sogleich auf einige ästhetisch faszinierende Phänomene: Ein „Music Cafe Crazy" mit Indianerfiguren im blauen Neonlicht des Fensters, auf den Schlüsseldienst „Das mobile Schloßgespenst", das sein Schaufenster mit Gespenstern dekoriert hat, einen Friseursalon, der die Ästhetik der fünfziger Jahre konserviert, das wunderbare „Engelhardt-Eck Bimmel" an der Ecke Rostocker/Wittstocker Straße, das ein eigentümliches Palimpsest darstellt mit den Schichten alte Eckkneipe und heute: türkisches Lokal; im Hintergrund die beleuchtete Turbinenhalle – ein schönes Bild.

Im Westberlin der achtziger Jahre gab es eine Bewegung um Künstler wie Raimund Kummer und Norbert Radermacher, die unter dem Label „Realkunst" ästhetische Aufmerksamkeit auf Phänomene des Alltags und des Straßenbildes zu lenken suchten. Und die Kunststudenten heute in Moabit? Sie sitzen mit Beck's-Flaschen in ihren Ladenlokalen und veranstalten Guppi-Rennen. Zwar hat man schon Senioren zum Tanztee geladen und mit Kindern ein „Waffel-Inferno" veranstaltet – eine künstlerische Reflexion des Umfelds aber findet nicht statt. Man ist hier, weil es hier noch Freiräume gibt; wie weiland in der Lychener Straße. Aber wer von den zugezogenen Studenten hat sich damals für sein Umfeld wirklich interessiert?

Florian Neuner

www.zentrale-moabit.de

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