Ausgabe 01 - 2002 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Wie in Dunst: Der Stellvertreter

Harald Juhnke im Turm

Und schließlich bleibt uns als letztes Mittel noch die Flucht, die uns vor allem retten kann. (Molière)

In meinem Kopf ists bälder Winter geworden als draußen. Der Tag ist ser kurz. Um so länger die kalten Nächte.

Eine Nachricht versetzt Berlin in tiefe Trauer.

Wir haben uns vor dieser Nachricht gefürchtet.

Und oft haben wir uns gefragt: Siegt in seinem Leben das Dunkel? Das Licht?

Nun Nein! Wahrheit!

Susanne Juhnke habe ihr Schweigen gebrochen, weil seine Tragödie auch ihre Tragödie sei. Er werde nie wieder auf einer Bühne oder vor der Kamera stehen, teilte sein Manager Peter Wolf der Presse mit.

Heißt das, wir dürfen gar nicht mehr für Harald hoffen?

Er war der Hauptdarsteller in einer Tragödie, die zur unentrinnbaren Wirklichkeit wurde.

Entschuldige sich keiner, ihn habe die Welt gemordet! Er selbst ists, der sich mordete! in jedem Falle!

Hier zu Lande ist keine Hoffnung ihn herzustellen. Nicht einmal in der Schweiz.

Wir betreten eine Zwischenwelt.

Wie erschrak ich aber als ich den armen Menschen so zerrüttet fande, kein vernünftiges Wort war mit ihm zu sprechen, und er ohnausgesetzt in der heftigsten Bewegung.

Die Demenz (lat. „ohne Geist") habe von seinem Geist Besitz ergriffen.

Es fällt ihm etwas ein, sei es eine Erinnerung, sei es vielleicht eine Bemerkung, die ihm ein Gegenstand der Außenwelt erweckt, er fängt an zu denken. Aber nun mangelt ihm alle Ruhe, alles Stete und Feste, um zu erfassen, was nur wie in Dunst in ihm werden wollte.

„Tragisch is det." (Erika Trommer)

Aber jeder werde halt mal alt.

Aber wäre das tragische Ende abzuwenden gewesen? Der Alkohol war ihrer Meinung nach nicht der Auslöser, sagt Susanne Juhnke, das sei ein langer Prozeß gewesen, der vor vier Jahren begonnen hätte. Da sei irgendetwas in seinem Gehirn passiert.

Er vertrug mehr als man glauben sollte.

Überhaupt ists seit ein paar Wochen ein wenig bunt in meinem Kopfe. O! Du weist es, Du siehst mir in die Seele, wenn ich Dir sage, daß es mich oft um so mächtiger wieder überfällt, je länger ichs mir verschwiegen habe, diß, daß ich ein Herz habe in mir, und doch nicht sehe wozu?

Vielleicht sind die Alkohol-Abstürze, die seine Karriere bis zum Schluß begleitet haben, eine unbewußte Rebellion gegen seine Verkanntheit gewesen.

Dich hat verderbt/Das zornige Selbsterkennen.

„Harald Juhnke war einer der begnadetsten Künstler, die es je gab. Ich wünsche ihm von ganzem Herzen, daß er keine Schmerzen hat." (Günter Pfitzmann)

Künstler können in unserer Gesellschaft nicht mehr als „normale" Menschen gelten, einfach, weil sie dem Normierungsprozeß der Gesellschaft aus irgendeinem Grunde entgangen sind.

Wir durchlaufen alle eine exzentrische Bahn, und es ist kein anderer Weg möglich von der Kindheit zur Vollendung.

Persönlichkeitsveränderung, Wahnvorstellungen, Depressionen. Er benötige keine Medikamente.

Doch gesund wird der Hirnkranke nie wieder.

Sein Gehirn ist wie ein kaputter CD-Spieler.

Im jetzigen Stadium bestehe keine Chance mehr auf Heilung.

„Damit hat niemand gerechnet." (Edith Hanke)

„Ich dachte, die Ärzte bekommen ihn wieder in den Griff." (Ludwig Haas)

Jetzt ist er wieder den gantzen Tag außer dem Bette und äußerst höflich, der Blick seines Auges ist freundlich und liebreich. Auch spielt und singt Er, und ist übrigens sehr vernünftig.

Und er hat angekündigt: Ich bereite ein Unterhaltungsprogramm für euch vor.

Und doch, es stimmte nichts.

Er verstand nichts, weil er zu zerstreut ist, und nicht einmal einen eigenen Gedanken, geschweige einen fremden, verfolgen kann.

Warum redet er manchmal Unsinn?

Weh! Närrisch machen sie mich.

Sein Wahnsinn ist nicht grade gefährlich, nur darf man den Einfällen nicht trauen, die ihn plötzlich anwandeln können. Er raset nicht, aber spricht unaufhörlich aus seinen Einbildungen, glaubt sich von huldigenden Besuchern umgeben, streitet mit ihnen, horcht auf ihre Einwendungen, widerlegt sie mit größter Lebhaftigkeit.

Sind das nichts weiter als Automatismen, Reflexe aus verwehten Zeiten? Ist es das, was von Juhnke übrig geblieben ist? Aber warum leuchten in solchen Momenten seine Augen so?

O Freunde! Freunde! die ihr so treu mich liebt!/Was trübet meine einsamen Blicke so?

Der ist aber ferne; nicht mehr dabei.

In Harald Juhnkes Kopf ist Nacht.

Geisteskrank in Fredersdorf: Der Mensch Juhnke lebt hier nicht mehr.

Es sind, hoffe ich, nur Symptome, die niemand beurteilen kann, als wer die vielen und großen Ursachen kennt, die ihn auf den Punkt, wo er ist, gebracht haben.

Er könne keine eigenen Entscheidungen mehr treffen. Er sei einfach nicht mehr bei uns. Harald sei einfach nicht mehr da. Dieser Mensch sei einfach nicht mehr da.

Geistig verwirrt!

Er sprach lauter Wahnsinn an mich.

Du bist verloren, wenn der Kopf nicht mitmacht. Kaputt. Aus, Ende der Fahnenstange.

Manchmal sieht er Mäuse hinter Büschen, die es nicht gibt. [Die Büsche oder die Mäuse?]

„Harald Juhnke und ich sind beide im Wedding aufgewachsen. Harald Juhnke ist und bleibt ein Stück Berliner Identität" (Eberhard Diepgen)

Das Leben hat dem armen Jungen aus dem Wedding alles gegeben. Warum lief er dem Glück davon, Schluck für Schluck?

Wenn ich aus Berlin weggehen würde, wäre das etwa so, als würde die Gedächtniskirche umfallen.

So sprach der Übermüthige.

Leute, ich habe noch so viel zu tun.

Ich bin der Normale, der so verrückt ist, wie die anderen Normalen manchmal heimlich wünschen zu sein. Ich mache das stellvertretend.

Wir lieben und leiden mit Harald Juhnke, weil in jedem ein kleiner Juhnke steckt. Ein Clown, ein Trinker, ein Playboy, ein Schlawiner, ein Berliner, ein Träumer, ein Lügner, ein Sinatra, ein Kind.

Jedes Jahr scheitern und sterben 42000 Deutsche am Alkohol. Juhnke lebt.

Juhnkes Schicksal ist vor allem ein Heldenschicksal. Wir sehen oft große, begnadete Menschen an Widerständen zugrunde gehen, mit welchen der Kleine spielend fertig wird, und der gesunde Durchschnittsverstand hat es leicht, die Begnadeten als Psychopathen zu erklären.

Es gibt große Wunder, es gibt kleine Wunder. Und es gibt Harald.

Florian Neuner

Korsakow-Syndrom (Sergei S.K., Psychiater, Neurol., Moskau, 1854-1900 n: (engl.) Korsakoff's syndrome; syn. amnestisches Psychosyndrom, auch Korsakow-Psychose; Syndrom aus Desorientiertheit, Gedächtnisstörungen (Merkfähigkeitsstörung, Pseudomnesie) u. Konfabulationen; Vork.: reversibel od. irreversibel i.R. einer org. Psychose, bes. bei Alkoholkrankheit (meist in Komb. mit Polyneuropathie*), auch bei Vitaminmangelzuständen, zerebraler Hypoxie, Schädelhirntrauma, Intoxikationen, Inf. (Typhus abdominalis, Fleckfieber) od. Hirnatrophie. Vgl. Alkoholpsychose, Durchgangssyndrom, Wernicke-Enzephalopathie.

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