Ausgabe 01 - 2002 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Berlin 1902

24. Januar bis 20. Februar

Eine Höhle wird am 30. Januar auf einem unbebauten, freiliegenden Terrain an der Frankfurter Chaussee entdeckt. In diesem Versteck hauste seit Wochen eine Anzahl junger Burschen und Mädchen, insgesamt etwa ein Dutzend Personen. Die Anwohner der an der Grenze zwischen Berlin und Lichtenberg gelegenen Kreutzigerstraße hatten seit einiger Zeit viel unter Diebstählen aller Art zu leiden, ohne daß es gelingen wollte, der Täter habhaft zu werden. Eines Abends bemerkten nun Passanten auf einem unbebauten Grundstück mehrere verdächtige junge Leute. Man behielt sie im Auge und gewahrte, daß sie plötzlich wie vom Erdboden verschwunden waren. Bei weiteren Nachforschungen entdeckte man eine Falltür und benachrichtigte die Polizei. Die diebischen Höhlenbewohner müssen noch rechtzeitig gewarnt worden sein, denn als polizeilicherseits in der Nacht die Falltür umstellt wird, sind die Vögel ausgeflogen. Durch die Falltür gelangt man mit Hilfe einer eisernen Leiter in eine große Höhle, die recht gut, fast wohnlich eingerichtet ist. Es werden Weinflaschen und andere Gegenstände in dem Versteck gefunden, die darauf schließen lassen, daß die Höhlenbewohner kein schlechtes Leben geführt haben, wie denn auch durch die merkwürdige Entdeckung bewiesen wird, daß ein Teil der Diebstähle auf ihre Rechnung geht. Die Höhle bleibt unter Bewachung, doch sind bis jetzt ihre Bewohner nicht zu ermitteln.

Eine eigenartige Störung des Fernsprechbetriebes durch Funkentelegraphie wird in der zweiten Januarhälfte im Bereich der Stadtfernsprechanstalten VI und IX beobachtet. Seit dem 15. Januar tritt in einem Teil der Anschlüsse der beiden Ämter ein eigenartiges, starkes Sausen und Pfeifen auf. Die Dauer des Geräusches, sowie die Beobachtung, daß die Störung nur zu gewissen Stunden des Tages auftritt, läßt den Schluß zu, daß sie von einer Starkstrom- anlage herrührt. Die Geräusche beschränken sich auf einen Umkreis von 500 Metern um den Anhalter Bahnhof. Die Frage, ob etwa das Kraftwerk der Hochbahn in der Trebbiner Straße oder das neue Kraftwerk der Berliner Elektricitätswerke in der Königin-Augusta-Straße mit der Erscheinung im Zusammenhang stehen, wird durch die sofort eingeleitete Untersuchung verneint. Wiederholte Versuche ergeben, daß die störenden Ströme nicht von dort kommen konnten, da sie auch nach Einstellung des Betriebes der beiden Werke unverändert auftreten. Auch der Betrieb der Straßenbahn erweist sich als unschuldig.

Es ergibt sich, daß ein Stromunterbrecher nach Wehnelt die Ursache der Geräusche bildet. Der Inductor ist für elektrolytische Zwecke in einer elektrotechnischen Anstalt in der Königgrätzer Straße aufgestellt. Auch Versuche mit Funkentelegraphie werden dort durchgeführt. Mit Hilfe des Inductors kann der Strom bis zu 2000 mal in der Sekunde unterbrochen werden. Die erzeugten Funken besitzen die Fähigkeit, einen Raum von einem Meter zu überspringen. Sobald der Unterbrecher, der von den Berliner Elektricitätswerken gespeist wird, in Tätigkeit gesetzt wird, tritt die Störung in den Fernsprechern auf und verschwindet, sobald er ausgeschaltet ist.

Der eigenartige Apparat ist in der Anstalt bereits seit zwei Jahren im Gebrauch. Daß die empfindlichen Störungen erst jetzt auftreten, liegt daran, daß erst seit dem 15. Januar Dauerversuche gemacht werden. Die Störung wird sofort beseitigt, indem an Stelle jenes Unterbrechers ein Apparat nach Deprez eingestellt wird. Dieser erzeugt nur 30 Unterbrechungen in der Sekunde und die Beeinträchtigungen unterbleiben. Welcher Zusammenhang zwischen dem Betrieb des Unterbrechers und den Störungen im Fernsprechnetz bestehen, ist nicht geklärt. Es stellt sich die Frage, ob es Inductionswirkungen von Kabel zu Kabel oder Fernwirkungen des Inductors nach Art der Funkentelegraphie sind.

Falko Hennig

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