Ausgabe 01 - 2002 berliner stadtzeitung
scheinschlag

Diese Ausgabe

Inhaltsverzeichnis


Zur Homepage

Du hast gesund zu sein!

Über den kategorischen Imperativ krankhaften Gesundheitsstrebens

Anfang Dezember trat jener Doktor Rath, der kürzlich noch von sämtlichen Plakatwänden Deutschlands aufs Volk heruntergelächelt hatte (Botschaft: Wir danken Ihnen, Dr. Rath!), in der Treptower Arena auf: eine Wiederholung seines Berliner Novemberauftritts im Interconti. „Wegen der großen Nachfrage", wie auf den Ankündigungen zu lesen war.

Doktor Raths Veranstaltungen laufen nach dem immer gleichen Schema ab: eine durchorganisierte und wohlkalkulierte Show, auf der der Doktor – erleuchtet im Rampenlicht – die Medizin, wie er sie versteht, erklärt: Er spricht von ein paar „Binsenweisheiten, die jedes Kind in 30 Sekunden verstehen kann". Und sie lauten: „Ein Herzinfarkt ist eine Mangelerscheinung" oder: „Das Pharmakartell lebt von den Krankheiten anderer Menschen". Doktor Rath bietet seinen Zuhörern eine obskure Melange aus Pharmaindustrie-Kritik, windiger Vitamin-Therapie, Erlösung. Und das Publikum lauscht andächtig. Die Menschen, die hierher pilgern, sind nicht krank. Nicht ein Heilungs- sondern ein Heilsversprechen hat sie in die Arena gelockt. Sie suchen und finden Erlösung. Wir danken Ihnen, Dr. Rath!

Daß dieser Messias soviel Anklang findet, ist ein Phänomen, das sich nicht nur mit dem Bedürfnis nach froher Botschaft erklären läßt, sondern vor allem mit dem Umstand, daß diese Gesellschaft Gesundheit zu einem ihrer Grundgebote zählt: die Voraussetzung von Gesundheit als Garant für gesellschaftliche Anerkennung, für gesellschaftliches Sein überhaupt.

Ganz naiv möchte man glauben, daß die eigene Gesundheit das Ziel eines ganz individuellen Strebens ist, das keine allgemeinen Handlungsanweisungen impliziert. Jedoch: Gesundheit, wie sie heute verstanden wird, stellt sich dar als unverhohlener Imperativ an das Individuum: Du hast gesund zu sein! Sonst bist du nichts! Demgemäß ist derjenige, der sich dem Gesundheitsdiktat nicht fügt (also der vorsätzlich ungesund Lebende), ein Außenseiter, ein Unmündiger, bestenfalls vergleichbar einem Kind, das erzogen werden muß: Rauchen gefährdet Ihre Gesundheit! Rauchen verursacht Krebs! Idiot!

I.Laut Lexikon ist Gesundheit nicht die Abwesenheit von Krankheit, sondern „der Zustand vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens". Ein Problem an dieser Erklärung ist, daß z.B. nicht wenige Biertrinker sich durchaus wohl in ihrem Rausch fühlen und solch wohligen Zustand auch über Gebühr, gesundheitsschädigend gar, herbeizuführen bereit sind. Und auf welche Weise sich nicht wenige via „Leibesertüchtigung" quälen, um einem gesellschaftlich vorgegebenen Gesundheitsideal gerecht zu werden, führt die vorgenannte Definition praktisch ad absurdum. Denn je näher man dem Ideal eines gesunden Lebens kommt, desto strenger wird Askese gefordert. Man darf nicht, man soll, man muß. In seinen „Sieben Todsünden" formuliert Brecht diese Haltung so: „Nütze die Jugend nicht; denn sie vergeht." Soviel zu dem Wohlbefinden, das uns die Gesundheitsapostel versprechen.

II.Vor wenigen Jahren warb eine Hamburger Immobilienfirma mit dem Slogan: „In einem gesunden Körper wohnt ein gesunder Geist. In einem schönen Büro wohnen zufriedene Mitarbeiter." Betrachten wir diese seltsame Weisheit genauer: Geht es den Kunden dieser Firma wirklich um die Schönheit ihres Büros, um die Zufriedenheit ihrer Arbeiter? Treffender müßte es heißen: „In einem effizienten Büro arbeiten produktive Mitarbeiter." Auch der erste Satz, eine Phrase aus dem NS-Vokabular, kann drastischer formuliert werden: „In einem funktionierenden Körper wohnt ein dienstbarer Geist." Die kapitalistische Gesellschaft beurteilt den Menschen nach seiner Verwertbarkeit: Ein kranker Mensch ist nutzlos, ein ungesund lebender Mensch in seiner Effektivität zumindest eingeschränkt. Je weiter sich das kapitalistische System entwickelte, desto stärker wurden seine Gebote verinnerlicht, sodaß heute die Menschen freiwillig Light-Bier trinken, in Fitneßstudios gehen, Magazine wie Fit for fun lesen. Sie rüsten sich für die Arbeit. Wenn man funktionieren will, muß auch der Körper funktionieren.

III.Auf frühsozialistischen Propaganda-Plakaten wurde der verschlagene Kapitalist meist sitzend mit Zigarre, als fett, bleich und pickelig dargestellt, der tapfere Arbeiter hingegen agil, muskulös, schlank, braungebrannt, eben gesund. Anders die Propaganda von heute, die uns in Werbung oder Filmen entgegentritt. Sie präsentiert den kapitalistischen Erfolgsmenschen als aktiv und kraftvoll, während uns der Arbeiter (sofern er noch auftaucht) im Bild des dekadenten Prolls begegnet. Der Proll ist fett und faul, ißt schlecht und trinkt zuviel, kurz: Er lebt ungesund. Tatsächlich dürfte der Lebenswandel angespannter Büromanager weitaus krankhafter sein als der bierbäuchiger Poliere. Dennoch wird er nicht nur als herausfordernd, abwechslungsreich, sexy usw. präsentiert, sondern auch als gesund. Gesundheit steht hier für Ehrgeiz und Vorankommen, ihr Fehlen für Versagen. Seit ein, zwei Managergenerationen müssen die Bosse darum viel Selbstdisziplin beweisen, und mit ihnen alle, denen sie ein Vorbild sind. Joschka Fischer steht bei jedem Bissen unter einem fürchterlichen Druck: Seine Gesundheit, die er allzu demonstrativ in Szene gesetzt hat, steht auf dem Spiel und mit ihr sein Image als Erfolgsmensch. Denn Gesundheit bedeutet Erfolg.

IV.Humphrey Bogart soll neben seiner Tür ein Tischchen mit Zigaretten und einem allzeit gefüllten Martiniglas gehabt haben. Kam jemand zu Besuch, konnte er sich als Kettenraucher und abgeklärter Trinker inszenieren, dem die Welt einfach zu blöd ist. Er fand diese morbide Haltung ästhetisch, und mit ihm Lauren Bacall und Millionen andere, von denen viele ihn noch heute imitieren. Er war schön als abgeklärter Trinker. Es war sozusagen seine Methode, schön zu sein. Daß die Gesundheit dabei hintanstehen mußte, nahm Bogart in Kauf. Normal! Über die Jahrtausende haben die Menschen viele Möglichkeiten ersonnen, sich schön zu machen, und ihre Gesundheit war ihnen dabei egal. Sie bekleisterten sich mit Farbe, um ihre Augen, Lippen oder Wangenknochen hervorzuheben, tröpfelten sich Chemikalien in die Augen, um die Pupillen zu vergrößern, preßten sich Hinterkopf oder Füße zusammen oder zogen sich den Hals lang. Wie fremd ist uns das heute! Nicht morbide Blässe, sondern frische Bräune, nicht schwerfällige Üppigkeit, sondern kernige Drahtigkeit, nicht kunstvolle Manipulation, sondern makellose Authenzität verlangen wir unseren Körpern ab. Fade Gesundheit eben ­ und wehe dem, der nicht mitspielt. Je nachdem, ob ihn das Ungesunde anzieht oder er selbst ungesund wirkt, gilt er als „pervers" oder „häßlich". Oder gleich als „krank". Nur das Gesunde ist schön.

V.„Mein Kind soll in einer natürlichen Umgebung aufwachsen, es soll wissen, wie eine Kuh aussieht", sagt so mancher Städter, wenn's ans Familiengründen geht. Es geht ihm nicht um den Bildungsvorsprung: Er hofft, seinem Kind in der Natur die Unschuld, Klarheit und Sicherheit bieten zu können, die es in der städtischen Zivilisation vermißt. Die ländliche Idylle als Symbol wider eine feindliche Welt. Diese romantische Haltung findet ein wichtiges Argument in der Angst um die Gesundheit. Obwohl diese als permanent gefährdet und hochgradig schutzbedürftig empfunden wird, ist sie doch etwas ursprüngliches, natürliches. Eine schwierige gedankliche Konstruktion, aber sie klingt so einfach: „Gesundheit ist Natürlichkeit". Im Umkehrschluß: Was natürlich ist, muß gut für meine Gesundheit sein.

VI.Uns ekelt vor Alter wie vor Krankheit. Schlimmer: Das Alter, ehemals gleichbedeutend mit Würde und Weisheit, ist an sich schon Krankheit. Reife Erwachsene verkleiden sich als Girlies oder College-Schüler, spielen Kinderspiele auf Hochzeiten, schreiben einander „Kuckuck!" und „Hey ihr!" in den Chatrooms. Halbgreise Rockstars schreien „I can't get no satisfaction!" Warum wollen sie ihr Alter vergessen? Worum beneiden sie die jungen Hüpfer, die soviel weniger wissen, können, sind als sie? Wohl nur um das eine: Um deren Zukunft. Die Jungen haben einfach noch mehr Zeit vor sich. So sehr vermissen wir die religiösen Mythen vom Ewigen Leben, daß die Angst vor dem Tod bis fast in die Jugend reicht. Alter ist nicht mehr Reife, sondern beginnende Fäulnis. Verständlich, daß unsere Bewunderung denen gilt, die „nicht alt werden" und wir die früh Gealterten als „verbraucht" verachten. Daß wir die Ankunft in diesem Endstadium so lang es geht hinauszögern wollen und das nicht nur mit Kleidung, Spielen oder Rockmusik. Sondern vor allem mit Gesundheit: Sie ist die beste Waffe im Kampf gegen das Alter, sie gibt Hoffnung und Sicherheit, sie erlöst von der Angst vor dem Tod und verheißt uns Ewiges Leben.

Eine Gesellschaft, die „Gesundheit" derart in den Vordergrund jeglichen Strebens stellt, kann gegen die „Binsenwahrheiten" eines Doktor Rath nicht gefeit sein. Aber es gibt nicht nur Wunderdoktoren, die zu helfen wissen: Die Tips derjenigen, denen gemeinhin ein gesunder Lebenswandel unterstellt wird, die körperlich und geistig fitten 80-, 90-jährigen, stehen häufig in schönem Widerspruch zu den Trimm-Dich-Maßgaben unserer Zeit. Willy Brodtke, noch mit 87 Jahren bei der Grünen Woche als Organisator tätig, antwortete auf die Frage nach dem Geheimnis seiner Vitalität: „Jeden Morgen ein Glas Rotwein und ein rohes Ei."

J. Touché/R. Abbiate

© scheinschlag 2002
Inhalt dieser Ausgabe | Home | Aktuelle Ausgabe | Archiv | Sitemap | E-Mail

  Ausgabe 01 - 2002