Ausgabe 01 - 2002 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Kapielskis Häuslichwerdung

Der „ulkige Erzählonkel" hat nicht mehr viel zu erzählen

Gut 400 Merve-Seiten umfaßt Kapielskis neues Buch Sozialmanierismus. Viele waren bereits veröffentlicht, in zitty oder FAZ oder sonstwo, viele sind überflüssig, langweilig, sogar ärgerlich. Kapielskis Schreiben wirkt nur, wenn er, wie er es selbstironisch, aber treffend nennt, den „ulkigen Erzählonkel" geben kann – in diesem Buch z.B. mit skurrilen und naturgemäß alkoholgeschwängerten Erlebnisberichten von einem Auftritt für den Rundfunk in Baden-Baden, vom Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt oder vom Grazer Steirischen Herbst. Doch solcher Stückchen findet man viel zu wenige im überbordenden Strom der Raisonnements, der sich ungehemmt über viel zu viele Seiten ergießt. Selbstgefällig wundert sich Kapielski, wie er dahinkam, wo er jetzt ist – eben auf renommierte Literaturveranstaltungen und eine C3-Professur an der Kunsthochschule Braunschweig – und ergeht sich dabei in Auslassungen über den Kunst- und Literaturbetrieb, die ziemlich billig sind, von jemandem, der selbst gut in diesem Betrieb mitverdient, auch zynisch. Kapielski hat so wenig zu erzählen, weil er nicht mehr viel erlebt. Mit seinem „Weib" und dem von ihm mit dem debilen Namen „Schnulzenputzi" bedachten Sohn hat er sich in seinem 50. Lebensjahr nach Lichtenrade zurückgezogen, damit das Kind nicht mit zu vielen Türken in die Schule gehen muß, und das gefeierte Kleinfamilienleben stört, nur, daß er immer noch viel säuft. Die deutschen Hochschulen mit „klugen Männern, die keine Familien ernähren und gut verdienenden Frauen, die keine Kinder kriegen können" hält Kapielski dagegen für kränklich, und auch wenn er über Arbeitslose, Sozialhilfe, Ausländer, Jörg Haider, Hitler, Dr. Helmut Kohl, Theater und anderes mehr schwadroniert, zeigt er entweder, daß er den Titel „Bierstimme Neuköllns", den ihm eine Berliner Boulevardzeitung verlieh, verdient, oder einen Willen zu politischer Inkorrektheit, der dann genauso gezwungen wirkt wie sein Gegenstück. Politisches Denken scheint Kapielski fremd, sein Metier sind eher biblische Töne. Zu redselig, erzählt er Dinge, die man gar nicht wissen will: daß er im Ulmer Münster heulen mußte oder daß er heimlich an den Haaren des „Schnulzenputzi" riecht, um sein Leben zu verlängern. Das Buch wäre um drei Viertel zu kürzen, danach hätte es Merve-Standardumfang und wäre eine ansprechende Lektüre.

Thomas Keith

Thomas Kapielski:
Sozialmanierismus.
Merve Verlag, Berlin 2001. 19,94 Euro

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