Ausgabe 12 - 2001 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Straßenautomateske Tuchfühlung

Will man moderne Mythologien an jeder Straßenecke sehen oder nicht? Man will oder auch nicht, aber man tut es dennoch permanent. Denkt man an all die Stadtgänger der Weimarer Zeit – Hessel, Benjamin, Kracauer – und insofern an den Berlin-Mythos der Zwanziger? Denkt man an nichts? Denkt man an Stadt und Zeichen, Archäologien der Moderne, vielleicht sogar Paläontologien des Kapitalismus? Ist das hier irgendwo komprimiert? Sozusagen in seiner wahnhaften Existenz – die dabei betontermaßen nach einer Essenz kommen muß – eingefangen? Also folglich als eine auf den Punkt ge- brachte essentielle Phantasmagorie eines verheißungsvollen, nostalgischen Wasauchimmer urbaner Zeitzeugenschaft? Kristallisiert in einem Dreigestirn aus Automatik – Straße – Stadt? Zurück zur Frage der Komprimiertheit: Es ist.

Da sind (eben jenes es ist) nun diese kleinen roten, selten auch gelben Kästen, die zudem auch noch auf Kinderhöhe an sämtlichen Häuserwänden zwischen Mitte und Friedrichshain an den Gehwegen hängen. Kästen mit einer fast schon archaisch funktionierenden Automatik: Reinstecken – Hebel variantenreichst drehen – warten, daß was gefallen kommt – wenn's klappert, kucken – im Kästchen rumfingern – manchmal vorher noch Deckel hoch. Und hat man dann was erbeutet, ist man doch immer wieder verwundert (über die Erbeutung a posteriori und über das Ding a priori in der Hand). Folglich straßenautomatische Kästen mit Verlockung ohne Ende.

Und es ist schlimm, daß man sich immer nach ihnen bücken muß, daß sie sich schon alleine durch ihre angebrachte Höhe einer erwachsenen Welt anscheinend doch so gerne entziehen möchten. Abgeschabt, abgewrackt, graffitös besetzt, kaugummiverschmiert tun sie noch ihr übriges dazu, sich gelungen zu entziehen. Doch nicht gelungen genug. Überwinden kann ich mich noch immer. Sozusagen die gesteigerte straßenautomateske Tuchfühlung.

Meist wollen sie Zehnpfennigstücke sehen, selten Fünfziger, dreiste sogar eine Mark. Und dann haben sie lauter zu Kaufsünden verleitende Glitzersachen hinter ihren verkratzten, bekritzelten Fenstern. Oder Kugeln mit was drin ­ Kaugummis oder so, oder auch kleine Schweizer Taschenmesser, Gummiskelette und andere unheimliche Sachen. Aber wieso eigentlich? Wer weiß, was ein kindlicher Passant seines Weges benötigt? Wer weiß, daß man glitzerringsüchtig werden kann? Und wer verdammt noch mal macht diese Automaten voll? Ein Herr aus Falkensee. Ein Mensch, der nie ans Telefon geht. Oder ein Anrufbeantworter, auf dem eine obligatorische Sekretärinnenstimme die firmenhafte Seriösität zu verteidigen sucht?

Was da passiert oder passieren kann bzw. mit jemandem gemacht wird, so auf der Straße vor diesem Ding, ist sicherlich erklärungsbedürftig: Man behilft sich vielleicht mit einem Zitat – aus dem Kontext gerissen, um einen Zusammenhang herzustellen, wo es nie nur einen gab. Da kann man dann folgende – vermutlich bereits straßenautomatisch-delirös motivierte – Verbindungslinie knüpfen (und sich über soviel Bestätigung freuen): Vor dem Stra-ßenautomat befindet man sich in einem „anderen Zustand des Unbewußten, in dem es nicht um ein zentriertes System geht, sondern um ein maschinelles Netz endlicher Automaten. Aussagen und Wünsche wollen nicht das Unbewußte reduzieren, es interpretieren. Es geht darum, Unbewußtes zu produzieren und mit ihm neue Aussagen, andere Wünsche: das Rhizom ist gerade diese Produktion des Unbewußten." (Deleuze/ Guattari)

Scheiße, mein Unbewußtes lungert vor mir auf dem Trottoir, in einem kleinen Automaten. Deleuze würde also weiterhelfen, und sagen, daß der kleine Siffautomat permanentes Rhizom mit oder an mir macht. So soll es denn nun sein. Dann eben weiter – Blick aus der anderen Richtung: Straßenautomaten als Instrumente des Baumsystems: „Baumsysteme sind hierarchisch und enthalten Zentren der Signifikanz und Subjektivierung, Zentralautomaten, die als organisiertes Gedächtnis funktionieren. Das hat zur Folge, daß in den entsprechenden Modellen ein Element Informationen immer nur von einer höheren Einheit erhält und subjektive Wirkungen nur von bereits bestehenden Verbindungen ausgehen können." Heißt das, daß ich nun nie wieder einen Zehner in einen Straßenautomaten werfen darf? Eben gerade ja nun nicht. Ist er ja, wenn schon ein unsouveränes Opfer des Baumsystems, eines, das sich schön selbst kaputtiert. Ich möchte also bei einem entschiedenen „Nein" verweilen, denn Landvermessen und Kartographieren – in gar manchem nostalgischen Kiez – läßt sich angenehm be-einflussen, beschleunigen, spielerisch konstruieren, solange man von Straßenautomat zu Straßenautomat laufen kann. Und einer Bedeutung dürfen sie dann auch erst mal gut harren.

Der grandiose Kitsch-Straßenautomat stellt sich da nämlich verflixt schlau sämtlichen zentralisierend veranlagten Systemautomatenmetaphern in den Weg. Ist Chaos einer Produktion, die sich in seiner verstreuten, fast schon unkenntlich-unbeachteten Anwesenheit noch zusammenrauft, aber dennoch viel ehrlicher seine eigene Ideo-logie eingesteht. Ist konsumierbare Wunschmaschinerie einer netten Offensichtlichkeit des Gebens und Nehmens, die die Zufälligkeit der Straße beherbergt. Jene Kontingenz aber auch, die, gerade in ihrer klassischen modernen Verklärtheit, immer wieder vom Automatendasein auf der Straße einen mehr oder weniger unerhörten Tritt in den Arsch erhält. Und insofern, und natürlich in erster Linie, ihr Vertreter: ein Passant, der dem Flanieren noch nicht ganz entsagen wollte. Wo diese kleinen Automaten noch so schön nostalgisch herumhängen, da werden sie gerade in ihrer fast perfekt getarnten Existenz zu Stolpersteinen eines Passanten, der so gerne als autonomer Automat durch die Straßen dériven würde, aber in der unterschwelligen Pop-Erfahrung des kleinen Teils immer wieder aus einem mythisierenden Gang herausgekickt wird. Angesichts der Plastik-Kitsch-Dinger hinter den kleinen Fensterscheiben wird auch er merken, daß er gerade im kampfartigen Aug um Aug, Zahn um Zahn mit diesem Automaten den Kürzeren ziehen wird. Seine Wunschproduktion ist und bleibt die allerschlimmste, die allerschönste kitschigste. Und das weiß manch kleiner Passant wesentlich unverwunderter anzunehmen.

O.k, o.k.: Konstruktion ­ Moderne ­ Mythologie ­ ist und bleibt alles nicht von der Hand zu weisen. Nicht, solange an der nächsten Ecke schon wieder so ein StraßenAutomat hängt, lexikalisch definiert als Vorrichtung, die vorbestimmte Handlungen nach einem Aus-löseimpuls selbständig und zwangsläufig, unter Umständen auch überwacht und geregelt befördert, und als Inbegriff dieser unserer zeitgenössischen Strassensituationen immer wieder in unseren Gang auf dem Trottoir hineinfunktionieren wird. Oder darf. Wenn man es zulassen will. Oder muß. Und ich sein gerechtfertigtes Opfer bleiben kann/darf/ soll/muß. Zwischen Straße und Automatik sozusagen, immerfort.

Tina Kaiser

Fotos: Tina Kaiser

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