Ausgabe 12 - 2001 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Berlin 1901/1902

Neujahr

Der Berliner Lokal-Anzeiger bittet einige Prominente um ein Geleitwort zum neuen Jahr.

„Was ich zum neuen Jahr wünsche," erklärt der greise Gelehrte Rudolf Virchow, „ist, daß die Menschen vernünftiger werden. Es sieht sonderbar und kraus genug in der Welt aus. Blicken Sie nur nach Amerika, wie dort alle Kräfte in Bewegung sind und alles darauf sich zuspitzt, dem Erwerb die Weltherrschaft zu sichern. Da muß der Respekt, den wir vor den Republiken von den Schulbänken einst in das Leben nahmen, schwinden. Es ist überhaupt ein seltsamer Geist in die Welt gekommen. Die Vorkommnisse entbehren zumeist eines sittlichen Charakters. Und wenn man nun die Persönlichkeiten kennt, die für diese Vorkommnisse vor dem Lande und der Geschichte die Verantwortung tragen, so steht man völlig vor einem Rätsel.

Ich habe mehrfach die Ehre gehabt, den jetzigen König von England, als er noch Prinz von Wales war, zu sprechen, und ich kann mir danach keine Vorstellung davon machen, daß dieser Fürst den Krieg in Transvaal auch nur einen Tag noch hat wüten lassen können. Da lese ich eben von dem Mandschurei-Abkommen. Erst nimmt Rußland China diese Provinz ab, und dann stellt es Bedingungen auf, die die dortigen Chinesen aller Bewegungsfreiheit berauben, ja sie den Russen gegenüber zu Sklaven herabdrücken. Nun kenne ich auch den Zaren. Ich werde öfter der Ehre seiner Unterhaltung gewürdigt. Und da frage ich mich erst recht: Wie konnte ein solches Abkommen entstehen? Der Zar hat es gewiß nicht gemacht und ist nach seiner ganzen Art weit davon entfernt, Prinzipien, wie sie in diesem Vertrag zum Ausdruck gelangen, zu billigen. Und dennoch ist das Abkommen da, und China wird es annehmen müssen. Es liegt eben etwas in dem öffentlichen Geiste unserer Zeit, das Derartiges möglich macht. Darum also wünsche ich, daß die Menschen vernünftiger werden, daß sie mehr denken und daß sie auch mehr Geduld an den Tag legen."


Rudolf Virchow veranlaßte eine in ganz Deutschland ausgeführte Untersuchung der Schulkinder zur Feststellung der Verbreitung der blonden und der brünetten Rasse, schrieb „Über einige Merkmale niederer Menschenrassen am Schädel" (Berlin 1875) sowie „Beiträge zur physischen Anthropologie der Deutschen, mit besonderer Berücksichtigung der Friesen" (Berlin 1876).

Weihnachtsfamilie: Archiv Hennig


Ernst von Wildenbruch hat für sich persönlich keine Wünsche: „Was an Wünschen in mir ist, betrifft Deutschland, betrifft Deutschlands Zukunft. Und was ich da zu sagen habe, ist eigentlich zu ernst, um es in einige flüchtige, kurze Worte zu fassen. Vielleicht geht es so: „Ich wünsche Deutschland ein Sich-Aufraffen. Ich wünsche ihm ein Sich-Emporschwingen zu starken Empfindungen, ich wünsche ihm Verständnis, weitgehendes, endliches Verständnis für die schwer wiegenden Fragen der Zeit. Ich wünsche dem deutschen Lande ein deutsches Volk, das heißt ein Volk, das endlich Selbsterhaltungstrieb lerne. Das brauchen wir. Denn leider ist der Himmel trübe, ja bedeckt mit schwarzen Wolken. Ich bin voll Sorge für Deutschlands ferneres Geschick. Gebe Gott, daß zu solcher Sorge nicht für mehr als für unsere nächste Zukunft Veranlassung vorliegen möge."

Auch Oberbürgermeister Kirschner ist nicht ohne Besorgnisse: „Wie sehr ich mit ganzer Seele eine Besserung der wirtschaftlichen Lage auch herbeisehne, so ist nach meiner Auffassung ein baldiger Aufschwung kaum zu erwarten. Ich stehe dem geschäftlichen Leben fern, kann also nicht als Praktiker urteilen, aber dennoch muß ich sagen, daß, soweit ich Umschau halte und ich mir die Situation klar mache, ich nichts zu entdecken vermag, was aus der Krisis uns schnell heraushelfen sollte. Schwebt doch unsere nächste Zukunft handelspolitisch vollständig in der Luft. Werden wir überhaupt Handelsverträge bekommen? Mit wem und zu welchen Bedingungen? So viel Fragen, so viel in völliges Dunkel gehüllte Rätsel. Wie aber soll da der Unternehmungsgeist sich regen! Weiß doch kein Fabrikant, was und wohin er in künftigen Jahren wird exportieren können. Auf der Ausfuhr aber beruht ein so gewaltiger Teil unserer Industrie, daß deren Beeinträchtigung auf Berlin den empfindlichsten Rückschlag ausüben muß. Wir können unser Bauen beschleunigen, hier müssen erst die Pläne entworfen werden, dort ist die staatliche Erlaubnis noch nicht da, in einem dritten Fall ist der Hauptträger der Arbeiten zeitweise erkrankt, und so geht es fort. Eine wirkliche Besserung kann nur der Ausblick auf eine klare, stetige Zukunft bringen."

Falko Hennig

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