Ausgabe 12 - 2001 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Ohne Hoffnung und Antrieb

Eine Sauftour von Moskau nach Petuschki

Auf dem Boden klappern wütend umgedrehte mechanische Aufziehvögel. Ein wenig russische Gymnastikmusik verbreitet im Hintergrund aggressiven Frohsinn. Das ist Theater? Das Stück heißt jedenfalls Moskau-Petuschki, eine Dramatisierung der gleichnamigen Novelle von Wenedikt Jerofejew. Hierin begibt sich der Autor (jawohl der Autor und keine vorgeschobene Figur!) auf eine Reise von Moskau in das Dörfchen Petuschki, um den Sohn und seine Liebste zu besuchen. Darum geht es aber nicht wirklich. Das Hauptaugenmerk liegt auf dem Trinken von Unmengen von Alkohol, wie es sich der vorurteilsbelastete Westeuropäer vorstellt. Es ist jedoch nicht die mühevolle Geschichte eines Trunkenboldes, der vereinsamt in der Ecke hockt. Worum geht es dann? Um beides ­ und um die sowjetische Gesellschaft Ende der sechziger Jahre. Die Novelle durfte damals nicht erscheinen. Das Werk war zu absurd und hätte keine optimistische Stimmung unter der werktätigen Bevölkerung verbreiten können. Die russische Erstausgabe wurde 1973 von einem israelischen Verlag publiziert. Erst 1988 konnten Jerofejews Landsleute die Novelle offiziell lesen.

Wer hier aber eine Anleitung zum Saufen vermutet, liegt völlig daneben. Denn was hier konsumiert und zusammengemischt wird, kann höchstens härtesten Trinkern noch einen Kick geben ­ für die Cocktails halten selbst Parfums, Nagellack oder Shampoo her. Was aber ist so interessant an der Geschichte? Man muß sich das Ganze als inneren Monolog vorstellen, bei dem irgendwann Sinn und Zusammenhänge verlorengehen. Das hat ursächlich mit dem steigenden Alkoholpegel unseres Protagonisten zu tun, der von aberwitzigen Situationen auf der Arbeit, im Wohnheim, im Restaurant, eigentlich überall zu berichten weiß. Am Ende entsteht ein Bild einer reichlich desolaten Gesellschaft ohne Hoffnung und Antrieb. Hier haben wir auch den Grund für das Publikationsverbot.

Wie führt man so etwas aber am Theater auf? Wohl am besten als Ein-Mann-Stück, nur der geeignete Darsteller muß sich finden. Das ist dem Maxim Gorki Theater mit Joachim Meyerhoff gelungen. Der Zuschauerraum des Gorki Studios ist umgebaut, das Schauspiel findet auf dem blanken Dielenboden statt. Das Publikum schaut zum Fenster hinaus auf die Baustelle der Zeughauserweiterung. Als Requisiten dienen ein CD-Player, ein Nachtschränkchen, Flaschen und ein Kopierer. Das Nachtschränkchen birgt die Cocktailutensilien, z. B. Tinte; der Kopierer wird im Laufe des Abends von Jerofejew mehrmals bestiegen, um von Körperteilen Kopien zu machen, die als Illustration an die Wand getackert werden. So reduziert wie die Utensilien ist die ganze Inszenierung. Außer einigen Spielereien und Lichteffekten, die Zugfahren simulieren, passiert nicht viel. Warum auch, wenn der Text für sich spricht?

Zuerst ist nur ein olivgrün wattierter menschlicher Lautsprecher mit Pelzrand zu sehen, der via Flüstertüte die Abfahrt des Zuges bekanntgibt. Das sieht sehr anstrengend aus, zumal das Kostüm sehr eng ist und kaum Bewegungsfreiheit gibt. Der menschliche Lautsprecher taumelt hin und her und denkt laut über den Weg zum Kursker Bahnhof nach. Als sich daraus endlich ein sehr verschwitzter Mensch schält, ist man froh, ihn nicht mehr leiden sehen zu müssen. Meyerhoff spricht den Jerofejew schleppend, nie lallend. Der ist ja nicht dumm. Er spricht zum Publikum wie zu sympathischen Zufallsbekannten. Man hört ihm gern zu, auch wenn man die Novelle gelesen hat und den Text Wort für Wort wiedererkennt. Am Ende hat man das Gefühl, einen neuen, wenn auch versoffenen, Freund zu haben. Das Lesen erspart der Abend aber trotzdem nicht.

ib

Moskau-Petuschki, Regie: Beate Heine, im Maxim Gorki Theater Studio, Am Festungsgraben 2. Das Stück läuft nochmal am 23. und 25. Dezember

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