Ausgabe 12 - 2001 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Und wer fragt mich, ob ich Werbung sehen möchte?

Freiwillig und kostenlos illustrieren Sprayer Wände, Mauern und Züge

Die Oberfläche von Plätzen und Straßen bestimmen nur wenige: Werbegraphiker, Bauherrn, Architekten, Denkmalschützer. Ihre Freiheit endet, wo der „das Empfinden verletzende Zustand" beginnt. Eine Formulierung aus der Bauordnung, die uns vor Verunstaltung schützen will.

Freiwillig und kostenlos kommen die Farbschichten der Sprayer dazu. Ohne Auftrag und ohne Erlaubnis illustrieren sie Wände und Dächer. Unfreiwillig bin ich Besucher dieser Bilder- und Unterschriften-Ausstellung. Ich frage mich nach dem Sinn. Wozu öffentliche Flä-chen mit soviel Energie und Geduld bebildern und beschriften?

Für die Dauer dieses Textes blende ich das Koordinatensystem Gesellschaftskritik und Sachbeschädigung aus. Sprayer sehen sich selbst als Künstler. Es soll keine Bewertung abgegeben werden, auch keine abstrakte Reflexion. Daher wurden einige Sprayer befragt und ihre Standpunkte wiedergegeben. Da sich mehrere äußerten, faßt der Text ihre Antworten zusammen. Gefragt wurden Neck, Azel.56 und FreaKS (Name geändert).

Wo wird gesprayt?

Zwei Merkmale machen eine Fläche interessant für ein Graffiti. Sie wird von vielen gesehen. Oder sie ist schwer zu erreichen. Ausgetragen wird ein Wettbewerb um Wagemut und Aufmerksamkeit. Fachausdrücke dazu: Bombing und Graffiti. Beim Bombing geht es um Mut, beim Graffiti um Perfektion. Ein Graffiti wirbt für den Namen des Sprayers. Der soll möglichst viele erreichen. Am besten ist es, wenn Name und Style wiedererkannt werden. Mit Zügen hat es begonnen, sie eignen sich besonders: Es gibt viele Fahrgäste und die Bilder wandern durch Stadt und Land. Aber inzwischen nutzen die Sprayer jede Fläche in der Stadt, die sie interessant finden.

Bezieht sich ein Graffiti auf seine Umgebung?

Meist nicht. An einem Lagerhaus hat man mehr Zeit als an einem Polizeirevier. Wer in Eile ist, beschränkt sich aufs Wesentliche, er sprüht seinen Namen. Ist mehr Zeit, kann er zwischen Buchstaben, Farben und Hintergrund eine Beziehung aufbauen. Dann ist es schon wichtig, wie der Ort aussieht, ob er eine Geschichte hat und ob sich daraus ein Thema für ein Bild aufbauen läßt.

Auch die Beschaffenheit des Hintergrundes läßt sich für ein Graffiti nutzen. Schalungsabschnitte einer Betonwand oder Ziegelfugen verstärken Farbigkeit oder Gliederung. Durchbrüche, Vorsprünge und Erker unterstützen die
räumliche Tiefe. Ein Ausflug in die optischen Regeln der Malerei ... Nebenbei sind aber vorbehandelte Untergründe auch einfach praktisch. Sie erleichtern die Arbeit, denn man spart sich das Vorstreichen.

Wie ist ein Graffiti begrenzt, hat es einen Rahmen?

Ein Graffiti kann in den Hintergrund übergehen, es kann auch durch Farbverläufe mit dem Hintergrund verschmelzen. Oder der Schriftzug ist umrandet, auf einer rechteckigen Grundfläche im Format zwei zu drei. Eine pragmatische Überlegung, denn Graffitis überleben nur kurz. Sie müssen schnell fotografiert werden. Die Fotos bleiben, um die eigenen Arbeiten anderen zeigen zu können. Zwei zu drei ist das Verhältnis der Seitenkanten eines Fotos. Aber es gibt natürlich auch Graffitis in anderen Größen.

Gibt es unpassende Orte?

Graffiti paßt eigentlich in jede Stadt und an jeden Ort. Ausgenommen sind Kirchen, Moscheen und Friedhöfe, auch Kunstwerke. Wer will, das man seine Arbeiten respektiert, respektiert auch die Arbeiten anderer. So sollte es wenigstens sein.

Wann ist ein Graffiti gut?

Ein Graffiti besteht aus Schichten: Schrift, Form, Farbe, Effekte ... Schriftzug und Style sollten interessant oder neu sein. Form, Farbe und Farbauftrag sollten harmonieren. Ein schwungvolles Graffiti kann auch unscharf oder verschwommen sein, das gehört zum Style dazu und ist kein handwerklicher Fehler. Wenn dann noch ein Bezug zum Ort hergestellt wird ­ dann ist es perfekt. Kurz: sauber gesprüht und originell. Ein Graffiti ist zwar nie fertig, aber bei den Guten spürt man einfach, daß hier jemand mit dem Herzen dabei war.

Ist die Stadt eine Ausstellung?

Die Welt ist durch die Werbung schon bebildert. Graffitis liegen zwischen Werbung und Kunst. Sie placieren den eigenen Namen in der Stadt und etablieren eine „Marke". Sie besetzen wich-tige Orte und machen auf sich aufmerksam. Wie Plakatwerbung, aber ohne Kaufaufforderung. Geltungssucht läßt sich vorwerfen. Anderseits ist die Namensnennung durch den Style verfremdet und versteckt.

Graffiti und Tags entwickeln sich weiter. Aus den undeutbaren Kürzeln entwickeln sich Figuren: abgebrannte Streichhölzer, Stühle, storchbeinige Vögel... Schnelle einfache Bilder, die assoziativ und anregend sind. Es passiert, daß ein anderer Sprayer das erste Tag um eine eigene Figur ergänzt: Auf dem Stuhl-Tag sitzt dann plötzlich jemand. Die Figuren werden so Teil eines größeren Bildes. Tags antworten auf Tags, Bilder auf Bilder. Auf den Wänden entwickelt sich ein Dialog.

Wer ist das Publikum?

Es gibt „Bürger" und es gibt Sprayer. Viele Sprayer behaupten, sie malen nur für sich. Es zähle der Spaß und die eigene Entwicklung. Aber auch die wollen mindestens ihre Kollegen beeindrukken. Leider können die wenigsten Passanten mit den Schriftzügen etwas anfangen, geschweige denn sie lesen. Es ist aber wichtig, auch den „Bürger" zu erreichen. Graffitis sollen die Wahrnehmung anregen, aufmerksam machen. Sie erzählen über eine bebilderte Welt, über Werbung, über Wände ...

Was rechtfertigt Graffitis?

Da fragt der Fachmann einfach zurück: Wer fragt mich, ob ich Werbung sehen möchte? Welches Argument gibt es gegen Kunst? Eine Kunst, die einem überall ins Auge springt, muß man akzeptieren, genau wie Steuern und Fahr-preise.

Neck lebt in Düsseldorf, er sprüht seit 12 Jahren. Am Anfang haben ihn die Graffitis anderer Sprayer beeindruckt. Er malte die Bilder mit Papier und Bleistift ab, analysierte die Buchstaben und entwickelte sie weiter. Inzwischen arbeitet er als Graphik-Designer. Seine Graffiti- und seine Graphik-Arbeiten beeinflussen sich gegenseitig. Neck arbeitet legal. Seine Bilder sind unter www.neckcns.com im Internet zu sehen.

Azel.56 und FreaKS arbeiten in Berlin. FreaKS hat gerade etwas Ärger und will lieber unter Pseudonym genannt werden. Er arbeitet in einer Gruppe mit Mitgliedern aus aller Welt. Die Gruppe, die es seit knapp zwei Jahren gibt, verbindet Kunst, Widerstand und Ausschweifung unter dem Titel: „WIR SIND DIE GUTEN...!"

Azel.56 arbeitet seit 7 Jahren, inzwischen auch weniger illegal. Graffiti und Hiphop sind für ihn eine Lebenseinstellung, ein Geben und Nehmen: „Wie ein Writer seinen flow in seine styles legt, legt ein DJ seine flows ins Tellerdrehen oder ein MC seine flows ins Reimen. Man gibt der Bewegung etwas und erhält etwas dafür." Seine Arbeiten sind unter www.efstars.com im Internet zu finden. Ulrike Böhm, Cyrus Zahiri

Ulrike Böhm ist Diplom-Ingenieurin für Landschaftsarchitektur. Cyrus Zahiri ist Diplom-Ingenieur für Architektur.

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