Ausgabe 12 - 2001 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Aufstand der Zwerge

Ein knappes Dutzend Menschen hatte sich im verrauchten Kulturkeller in der Auguststraße hinter Weingläsern und Bierflaschen versammelt. Nach und nach kamen mehr dazu. Die Nazis wollten durch die Auguststraße marschieren. Das konnte man nicht zulassen.

Anlaß des Treffens war der für den 1. Dezember angekündigte Aufzug der NPD, der mitten durch das Scheunenviertel mit seinen vielen jüdischen Einrichtungen gehen sollte. Ziel sollten die „Kunst-Werke" in der Auguststraße sein, wo die überarbeitete Ausstellung Verbrechen der Wehrmacht nach zweijähriger Unterbrechung das erste Mal gezeigt werden sollte. Die Rechtsextremisten hatten bundesweit ihre Anhänger für diesen größten Aufmarsch nach dem Zweiten Weltkrieg mobilisiert, um die in der Ausstellung gezeigten Greuel öffentlich zu leugnen.

Die Vertreter verschiedener Kunstvereine und Kultureinrichtungen waren zusammengekommen, um gemeinsame Gegenaktionen zu planen. Einige wollten sich gleich selber dem Aufmarsch entgegenstellen, die Auguststraße für die Nazis sperren. Da sich dem nicht alle anschließen konnten, einigte man sich ­ etwas bescheidener ­ darauf, den Aufruf der Fraktionen der BVV Mitte zu unterstützen, sich vor der Neuen Synagoge in der Oranienburger Straße zu versammeln. Die Gruppe „Kule" plante außerdem Kunstaktionen entlang der Demonstrationsstrecke.

Zwei Tage später trafen sich noch-mal alle im Kulturbüro Mitte, um Plakate und Aufruf abzuholen. Künstler und Kulturschaffende zogen anschließend durch die Spandauer Vorstadt und fragten die Inhaber von Läden oder Galerien, ob sie die Plakate ins Schaufenster hängen würden. Fast alle stimmten zu.

Am Samstag glich das Kulturbüro in der Auguststraße einem Bienenstock. Von hier aus wollten die Kulturschaffenden eigentlich gemeinsam zur Oranienburger Straße ziehen. Doch dort war die Polizei gerade damit beschäftigt, mit Wasserwerfern und Tränengas die Gegendemonstration aufzulösen, die sich am Hackeschen Markt formiert hatte. So zogen die Versammelten denn einzeln oder in kleinen Gruppen los.

Während die Polizei in der Oranienburger Straße weiter gegen die Demonstranten vorging, fanden immer mehr den Weg in die Auguststraße. Auffällig war, daß nicht nur die viel beschworenen Autonomen oder „linken Randalierer" unterwegs waren, sondern das ganze Spektrum der in Mitte Lebenden, unter ihnen auch viele ältere Menschen.

Die Stimmung hatte beinahe Volksfestcharakter: Vor dem Kulturamt drehte ein DJ seine Plattenteller. Blondbezopfte „Damen" schwangen das Tanzbein und schenkten heißen Kaffee zum Aufwärmen aus. Die Trommel-Gruppe des „Erich-Fried-Gymnasiums" aus Friedrichshain zog mit ihren Instrumenten den Polizeiabsperrungen entgegen und brachte den Beamten ein Ständchen. Viele nutzten die Gelegenheit, sich die Ausstellung anzusehen.

Zwar hatten die Aktionen in der Spandauer Vorstadt weder erreicht, die NDP-Demonstration zu verhindern, noch erregten sie das Aufsehen einer spektakulären Großdemonstration. Wo-möglich haben sie aber Langzeitwirkung, was von oben angeordnete Demonstrationen im Sinne eines „Aufstands der Anständigen" sicher nicht für sich in Anspruch nehmen können. Zwischen Ladeninhabern, Kulturbeflissenen und allen Beteiligten sind Kontakte entstanden. Nächstes Mal kennt man sich.

Hendrik Khan

Informationen zu GESICHT ZEIGEN! im Internet unter www.gesichtzeigen.de

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