Ausgabe 11 - 2001 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Archäologie des Alltags

Geschichten von Häusern und Menschen im Heimatmuseum Wedding

Was war hier wohl früher mal? Manche bleiben stehen und rätseln über Sinn und Funktion, andere bemerken die Relikte vergangener Alltagskultur im Straßenbild überhaupt nicht. Beiden Passantentypen bietet die Ausstellung „Von Häusern und Menschen: Lebensspuren und Geschichten aus dem Wedding" im Heimatmuseum des Bezirks Antworten und Augenöffner: Da ist die burgartige Ruine in der Wiesenstraße ­ vor 100 Jahren beherbergte sie ein großes, liberal geführtes Obdachlosenasyl. Auf dem breiten Grünstreifen zwischen Grüntaler und Stettiner Straße verkehrte bis 1897 ebenerdig und unfallträchtig die Eisenbahnlinie nach Stettin. Und das merkwürdige Gebäude an der Schwedenstraße? Das diente schon Mitte des 19. Jahrhunderts als Depot und Futterstätte für die Zugtiere der ersten Pferdebuslinie zwischen Gesundbrunnen und Molkenmarkt. Der museale Rundgang durch den Wedding umfaßt jedoch nicht nur Stationen, die mehr oder weniger gut erhalten draußen besichtigt werden können, sondern fördert auch Geschichten zu-tage, die sich hinter Fotos, Zeichnungen und Liedern verbergen und verloren zu gehen drohen: Über den „Glaskasten", KPD-Versammlungsort und später SA-Folterkeller, konnten noch Zeitzeugen Auskunft geben. Ein paar Platten sind hingegen beinahe alles, was von der lokalen Comedian-Harmonists-Version „Die 4 Wedding Boys" ermittelbar war, die im Kiez als Straßenmusiker begannen. Eine Medusa und ein Buch mit getrockneten Blumen erzählen eine Geschichte, über die die couragierte Weddingerin Wanda Fritz nach dem Krieg nicht viele Worte verlor: Sie hatte Juden mit Essen versorgt und eine ältere Frau versteckt, die ihr hinterher diese Andenken gab. In kleinen, hastig hingetuschten Skizzen hielt der Pressezeichner Wilhelm Hövener den Wedding zwischen Krieg und Frieden fest und ließ sein schemenhaftes Selbstbildnis skeptisch aus einer Blattecke daraufblicken. Als seltene Bestandsaufnahmen von Alltagsszenen gehören Höveners zahlreiche Zeichnungen heute zum wichtigsten Besitz des Museums an der Pankstraße, das im denkmalgeschützten Backsteinbau des „Schulhauses am Gesundbrunnen" von 1866 untergebracht ist. Besondere Attraktion der Dauerausstellung, die auch Dokumentationen zum Wedding im Kalten Krieg und zur wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung des Stadtteils umfaßt, ist ein historisches Klassenzimmer. Hier wird an die reformpädagogischen Ini-tiativen der „weltlichen Schulen" erinnert, von denen es im „roten Wedding" neben der Schule Pankstraße sieben weitere gab. Völkerverständigung und Pazifismus waren erklärte Unterrichtsziele, durch das Schulgedichtbuch Unsere Welt von 1929 sollten Arbeiterkinder lernen, daß ihre gewöhnliche städtische Umgebung sehr wohl für Dichter interessant war ­ vier Jahre später gehörte der kleine Band zu den verbrannten Büchern auf dem Bebelplatz.

Wem die in der Ausstellung präsentierte Kurzform der Wedding-Geschichten nicht ausreicht, der ist von den Mitarbeitern herzlich eingeladen, sich ins Archiv zu vertiefen.

Annette Zerpner

Heimatmuseum Wedding, Pankstraße 47, Di/Mi 10-16, Do 12-18 und So 11-17 Uhr. Die Sonderausstellung „Von Häusern und Menschen: Lebensspuren und Geschichten aus dem Wedding" wurde bis Ende 2001 verlängert.

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  Ausgabe 11 - 2001