Ausgabe 11 - 2001 berliner stadtzeitung
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Reden über Steffi Graf und türkischen Pop

Vereinigte Bezirke, geteilte Kulturen

Seit April 1999 kommt das Viertel rund um die Soldiner Straße in Wedding in den Genuß einer besondern Form von Stadtentwicklung. Auf Grundlage eines Kriterienkatalogs des Stadtsoziologen Hartmut Häußermann wurde das Gebiet wegen seiner Sozialdaten als problematisch eingestuft und mit einem „Quartiersmanagment" versehen. Mit mehr als einer Million DM jährlich soll der durch hohe Arbeitslosigkeit und einen Ausländeranteil von über 37 Prozent geprägte Kiez vor dem „Abrutschen" bewahrt werden. Nachdem anfänglich vorwiegend in bauliche Infrastruktur investiert wurde, beginnt nun verstärktes kulturelles und soziales Engagement. Ein großer Teil der Bewohnerschaft besteht aus einer großen muslimischen Gemeinde, vorwiegend türkische und arabischstämmige Weddinger. Ein Interview mit dem Islamwissenschaftler und Quartiersmanager Reinhard Fischer.

Sie haben als Islamwissenschaftler eine Stelle als Quartiersmanager angetreten, war das Zufall oder Strategie?

Zufall, würde ich sagen. Die Stellen für Islamwissenschaftler sind nicht reich gesät. Reizvoll im sozialen Bereich ist für mich die Vielseitigkeit der Arbeit.

Was kann das Quartiersmanagment in der Soldiner Straße leisten?

Unser Auftrag ist, den Wegzug zu stoppen. Dafür werden wir von der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung bezahlt. Wichtig ist hierfür ein Imagegewinn für das Gebiet. Es gibt viele Vorurteile wie, „Du wohnst in der Koloniestraße? Da wird man doch jedes Mal erschossen, wenn man über die Straße geht." Leider haben viele Bewohner das übernommen, dieses Gefühl „ich muß hier wohnen". Das wollen wir ändern. Allerdings wecken die Gelder, die hier zur Verfügung stehen, auch eine Menge Begehrlichkeiten.

Was ist kennzeichnend für den Kiez?

Es leben zirka 20 Prozent von Arbeitslosenunterstützung und knapp 20 Prozent von Sozialhilfe, also 40 Prozent von Transferleistungen. Das würde ich als das Hauptproblem der Gegend bezeichnen. Außerdem gibt es einen großen Anteil von Bewohnern nichtdeutscher Herkunft. Nach Paß sind es 37 Prozent. Wenn man das Gebiet jedoch kleinräumiger anschaut, stellt man fest, daß in einzelnen Blöcken 55 Prozent Ausländer wohnen. Wenn man noch kleinräumiger schaut ­ auf die Klingelschilder nämlich ­ dann stellt man fest, daß es viele Häuser gibt, in denen zunehmend nur noch eine Ethnie wohnt.

... also eine ethnische Segregation?

Ja, das machen die Erwachsenen vor, und die Jugendlichen machen das nach. „Wo liegt das Problem, wenn sie in ihren eigenen ethnischen Gruppen bleiben", könnte man fragen. Das Hauptproblem ist der Spracherwerb. Wie kann ein Kind richtig Deutsch lernen, wenn es morgens fünf Stunden in der Schule mit Deutsch konfrontiert wird, der ganze Rest des Tages jedoch nur auf türkisch abläuft. Das beginnt im Freundeskreis und geht bis hin zum Medienkonsum, ethnisch homogenen Sportvereinen und dem gesamten sozialen Umfeld. Ein Kind, das in der Soldiner Straße aufwächst und eingeschult wird, hat nur eine zehnprozentige Chance das Abitur zu machen. Eines, das in Zehlendorf aufwächst und eingeschult wird, hingegen eine 40prozentige. Da sehe ich einen unheimlichen Integrationsbedarf.

Wie ist die Situation speziell der islamischen Gemeinde?

Das Problem, daß man zwar dicht nebeneinander, aber nicht miteinander lebt, gilt auch in dieser Beziehung. So sind die meisten Vereine und Moscheen ethnisch homogen. Allerdings existiert auch ein anderer Muslimkreis mit einem bunten Publikum, in dem man untereinander auch Deutsch spricht. Das finde ich einen interessanten Ansatz, damit der Islam in Deutschland aus der ethnischen Ecke rauskommt und zu einer ganz normalen Religion wird.

Es besteht die Gefahr, daß sich muslimische Migranten ihre mangelnde Integration in den Arbeitsmarkt, überhaupt ihre Integration in die Gesellschaft, mit ihrer ethnischen Zugehörigkeit erklären. Der erste Schritt wurde mit der Änderung des Staatsangehörigkeitsrechts getan. Was nun wichtiger geworden ist: das Problem der Religionszugehörigkeit. Man ist jetzt zwar deutscher Staatsbürger, hat aber dennoch das Gefühl, als Muslim diskriminiert zu werden.

Inwiefern werden Muslime diskriminiert?

Es gibt ein großes Mißtrauen gegenüber den Moscheevereinen seitens der Bezirks- und Verwaltungsseite. Das hat sehr viel mit der Angst zu tun, sich mit den „Falschen" einzulassen. Mein Ziel ist eine Art „Institutionsempowerment". Die Moscheen und islamischen Vereine sollen als gleichwertige Ansprechpartner gestärkt werden.

Hat sich an diesem Mißtrauen seit dem 11. September etwas geändert?

Eigentlich nicht. Die Problematik ist nur stärker ins Bewußtsein gerückt. Ein positiver Ansatz: Wir haben den Bezirksbürgermeister Zeller in eine Moschee eingeladen und uns sehr gefreut, daß er kam. Es ist wichtig, daß ein so großer Verein wie der Moscheenverein ­ der im Gebiet so viele Mitglieder hat ­ als Ansprechpartner der Verwaltung ernst genommen wird.

Welche Auswirkungen hat die aktuelle politische Situation und deren mediale Aufbereitung für die Muslime im Gebiet?

Man merkt eine veränderte Stimmung. Viele Muslime fühlen sich jetzt pauschal verdächtigt und sind dadurch sehr empfindlich geworden. Die Gefahr besteht, daß sie sich stärker zurückziehen. Der positive Aspekt ist, daß manche Gruppen jetzt in Bezug auf Öffentlichkeitsarbeit sehr aktiv werden. Die Moschee in der Drontheimer Straße hat einen Artikel in der Berliner Zeitung plaziert. Ohne den 11. September hätte sich niemand für diese Moschee interessiert. Aus dem Rechtfertigungsdruck, „Ich bin gläubiger Muslim und trotzdem kein Terrorist", entsteht mehr Kompetenz in Richtung Öffnung, hin zur deutschen Mehrheitsgesellschaft.

Was meinen Sie damit?

Viele wünschen sich sowohl das Beibehalten der kulturellen Identität, dazu gehört das ethnische Netzwerk, dessen Bedeutung ich am Anfang meiner Arbeit zu gering eingeschätzt habe und gleichzeitig mehr Teilhabe am Diskurs der Mehrheitsgesellschaft. Es ist nicht nur die Frage, wie gut jemand Deutsch kann, sondern auch, womit er sich beschäftigt. Wer ist Wowereit und was ist Greenpeace? Gerade durch die starke Trennung im Freizeit- und im Medienbereich sehe ich, daß hier viele Leute leben, die genau wissen, welche Pop-Gruppen in der Türkei gerade angesagt sind und welche politischen Parteien sich dort neu gebildet haben. Aber hier im Berliner Diskurs sind sie nicht drin. Wichtig wäre, daß sie an beiden Diskursen teilhaben, daran, was die Gesellschaft gerade beschäftigt ­ und sei es das neue Kind von Steffi Graf. Ich sehe, daß diese Diskurse völlig auseinanderfallen.

Was wäre für die Zukunft des Gebiets wünschenswert?

Letztendlich sollte eine Moschee in einer Gegend wie dieser, wo wahrscheinlich mehr Menschen in eine Moschee gehen als in eine Kirche, Normalität sein. Islam sollte zu einer anerkannten Religion in Deutschland werden. Das ist leider noch nicht der Fall.

Interview: Martin Koch

Fotos: Mathias Königschulte

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