Ausgabe 11 - 2001 berliner stadtzeitung
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Blick nach Osten

Uwe Radas neues Buch handelt von „Berliner Barbaren"

Es ist inzwischen zum komischen Ritual geworden: Nach jeder Berliner Wahl beginnt aufs Neue das ratlose Gründeln des Westens, was eigentlich mit dem Osten los ist. Grandiose Irrtümer inklusive: So erwähnt Brigitte Fehrle in einem Kommentar der Berliner Zeitung zwar kritisch die „patriarchale Politik des Westens für den Osten", schreibt aber wenig später, eine Regierungsbeteiligung der PDS in Berlin wäre für die Partei eine „Erziehung zum'Ankommen' im Westen" gewesen.

Gleich dreimal falsch. Denn erstens kommt die Politik des Westens „für" den Osten dort oft eher als Kampfansage an: wie beispielsweise das „Planwerk Innenstadt", das ja auch als solche gemeint war. Zweitens haben die Ostler mit Erziehungsversuchen ­ nun: des Westens ­ so ihre eigenen Erfahrungen. Der dritte Irrtum ist der schwerwiegendste: Nicht der Osten muß zum „Ankommen im Westen" ermahnt werden. Vielmehr hat Westberlin offenbar immer noch nicht begriffen, daß es sich mitten im Osten befindet.

„Osteuropa beginnt am Moritzplatz" ­ so heißt ein Kapitel im neuen Buch des taz-Redakteurs Uwe Rada, das nicht nur Frau Fehrle, der Ex-tazlerin, ans Herz gelegt werden sollte. Sein ironischer Titel: „Berliner Barbaren ­ wie der Osten in den Westen kommt".

Einerseits war ein Werk wie dieses längst überfällig. Gleichzeitig ist es ein höchst aktuelles Buch, indem es auf seine Weise die Dichotomie von (westlicher) „Zivilisation" und „Barbarei" hinterfragt.

Uwe Rada tut, was die auf den Westen fixierte Berliner Politik seit über einem Jahrzehnt gründlich versäumt hat: Er richtet den Blick nach Osten. Neugierig, offen, differenziert.

Es ist, im wahrsten Sinne des Wortes, naheliegend: Die polnische Grenze ist von Berlin nur 80 Kilometer entfernt, die EU-Osterweiterung steht vor der Tür. Während Berlin in den letzten zwölf Jahren davon träumte, New York zu werden, oder bestenfalls Politiker von einer „Ost-West-Drehscheibe" faselten, hat sich der Autor die Berliner, die polnischen und osteuropäischen Realitäten genau angesehen. Die Geschichten, die er erzählt, sind hochspannend – schon deshalb, weil man hierzulande nicht eben oft Geschich-ten über die ostpolnische Grenzstadt Przemysl, den Budapester Chinesenmarkt oder das Gefälle zwischen Görlitz und Zgorzelec lesen kann. Und siehe da: Es gibt längst eine „Ost-West-Drehscheibe". Sie boomt, ist neben London und Moskau die teuerste Stadt Europas, und heißt: Warschau.

Dabei führen die dramaturgischen Fäden in Radas Buch immer wieder nach Berlin zurück. Berlin, die „Frontier Town" ­ Grenzstadt. Diese Grenze ist keine hermetische, starre. Sie verschiebt sich ständig und ist durchlässig. Berlin ist gleichzeitig Transformationsstadt, eine Stadt des radikalen Wandels, der auch neue soziale Kluften mit sich bringt. Wende und Mauerfall erreichten Westberlin zu einer Zeit, als die Folgen der „Globalisierung" sich im Westen abzeichneten. Dieses Spannungsfeld ist Kern des Buches. Unsicherheit ist der beste Nährboden für Ressentiments, Phantombilder und den Reflex zur Abschottung. Rumänische Hütchenspieler! Russenmafia! Polnische Schwarzarbeiter! „Die Figur des östlichen Barbaren hat bekanntlich immer dann Konjunktur, wenn die scheinbar überlegene westliche Zivilisation an ihre Grenzen gerät." Wobei das Schreckensbild des östlichen Barbaren keineswegs neu ist: Das Ressentiment kann auf eine lange Geschichte verweisen. Im Kern ist es geblieben, wie es Rada kurzfaßt: „Osten gleich slawisch gleich Kulturlosigkeit und Barbarei". Dies mit Zitaten zu belegen, bereitet in dieser Stadt wahrhaftig keine Mühe.

Es ist bemerkenswert, wie plastisch und fesselnd der Autor ein komplexes Geflecht mit vielen Aspekten beschreibt, wie er Zusammenhänge herstellt zwischen Phänomenen, die auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun zu haben scheinen. Es geht um mentale, wirtschaftliche, politische Grenzen, um informelle Ökonomien, Basare und Märkte, um die „Urbanisierung des Ostens", um die Westberliner Flucht in die gute, „schöne" und vor allem sichere Vergangenheit ­ im Gegensatz zur unsicheren Zukunft. Es geht um polnische Putzfrauen, Pendelmigranten und um die „neuen Nomaden", die „fröhlichen Barbaren". „Barbaren" im Sinne Walter Benjamins. Mit Radas Worten: „Wer nach Osten geht, weiß, daß die Menschen, die in diesen Zügen sitzen, etwas mitbringen, worauf man sich im Westen erst wieder besinnen muß: Nichts als sich selbst."

Der Autor illustriert nicht mit Geschichten ein theoretisches Traktat ­ er leitet aus den Geschichten Befunde ab. So kommt er zu dem Ergebnis, daß der Osten dem Westen den Spiegel vorhält. Wo sei eigentlich der Unterschied zwischen rumänischem Hütchenspiel und der Abzocke am Börsenmarkt der New Economy? Und er erinnert den Westen an seine latente Schizophrenie: „Was aber, wenn die Bürger östlich von Oder und Neiße das Versprechen von der Freiheit beim Wort nähmen?" Dazu paßt die Empfehlung des amerikanischen Kulturwissenschaftlers John Czaplicka, Berlin möge statt über ein „Revival", die Rückkehr der „guten alten Zeit", doch eher über ein „Survival" nachdenken, ein Überleben ­ Großstadt als Überlebensort für die Zuwanderer, die das schrumpfende Berlin auch dringend braucht.

Uwe Rada hat ein hochkonzentriertes Buch geschrieben und ein leidenschaftliches: Seine Sympathie gilt erkennbar jenen „fröhlichen Barbaren" und neuen Nomaden, die aus ganz pragmatischen Gründen kommen und derart flexibel und mobil sind, wie es der „globalisierte" Westen von seinen Bürgern ständig verlangt.

Nicht zu vergessen das Nachwort („Neun Notate") des Publizisten Wolfgang Kil und ein Fotoessay von Claudia C. Lorenz. Selten erzählt ein Nachwort noch einmal ganz eigene Geschichten, liest man es mit derselben Spannung wie das „eigentliche" Buch zuvor. Die Russen kommen? Ach nee – sie sind schon da, ruft der Barbar nach der Lektüre fröhlich.

Ulrike Steglich

Uwe Rada: Berliner Barbaren - Wie der Osten in den Westen kommt, 238 S., BasisDruck, 38 DM

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