Ausgabe 10 - 2001 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Berlin 1901

18. Oktober bis 14. November

Eine Spukvilla gibt es in Friedenau, wo die Mosel- und Saarstraße zusammenstoßen, also fast unmittelbar an der belebten Rheinstraße, die einen Teil der zur Prachtstraße gewordenen ehemaligen Potsdamer Provinzial-Chaussee bildet. Diese große Villa steht seit nunmehr 16 Jahren leer und verfällt entsprechend. Die Fenster, soweit sie nicht von Jalousien bedeckt werden, sind eingeworfen und der Putz beginnt sich von den Fassaden zu lösen. Das verlassene Haus besitzt einen großen, aber vollständig verwilderten Vorgarten. Das wirklich Merkwürdige an der Sache ist, daß die Friedenauer Spukvilla dem selben Besitzer gehört wie bis vor einem Jahr die Spukvilla Potsdamer Straße 99. Auch dieses alte Haus hat viele Jahre hindurch leer gestanden und machte bis vor dem im vorigen Jahr erfolgten Abbruch einen völlig ruinenhaften Eindruck.

Julius Stettenheim feiert am 1. November seinen siebzigsten Geburtstag. Obwohl von Geburt Hamburger, verkörpert er doch ein gutes Stück Berliner Journalistik und Literatur, er ist heute einer der Ältesten, dessen Erinnerungen häufig in die ersten schüchternen Anfänge des Berliner Presswesens führen. Trotz seines Lebens voll schwerer, entsagungsreicher Arbeit denkt er noch lange nicht daran, die Feder auszuspritzen und sich dem wohlverdienten otium eum dignitate zu widmen. Obwohl im Dienst der Presse grau geworden, haben all die Stürme und Kämpfe der vergangenen Jahre ihn nicht müde und seinen schlagfertigen Witz nicht stumpf gemacht. In lustiger Selbstironie hat er den ewig vorschußbedürftigen Journalisten Wippchen geschaffen, und wer die Drangsale unseres Berufes kennt, dem werden die unendlichen Vorwände, unter denen Wippchen immer wieder einen Vorschuß von seiner Redaction erringt, eine verständnisinnige Freude bereiten. Wer hat nicht gern einmal in sein „Kistchen Monopolcigarren" gegriffen, um sich mit einer feinen Marke die Sorgen wegzublasen. Einzelne dieser „Giftnudeln", wie man so schön poetisch sagt, sind so populär geworden, daß sie den Neid großer Tabakfirmen erregen könnten. Seine „heiteren Erinnerungen" haben dem Geburtstagskind im Silberhaar einen ehrenvollen Platz in der Literatur erworben. Es gibt in der Unterhaltung kaum einen interessanteren Erzähler und geistvolleren Causeur als den alten Stettenheim mit dem immer fröhlichen Herz eines Jünglings. „Eine contradiction, wie sie in adjecto nicht ärger sein könnte", würde Wippchen sagen.

Ein Pistolenduell zwischen einem Polizeiofficier und einem Studenten findet im Tegeler Forst statt und nimmt bei einmaligem Kugelwechsel einen unblutigen Verlauf. Anlaß zu der Herausforderung gab ein Streit, der zwischen dem Polizeileutnant S. und dem Studiosus der Pharmokologie Z. in der Nacht zum 30. Oktober in einem Restaurant des Nordens ausgebrochen war. Dort verkehrten seit langem der jungverheiratete Polizeileutnant S. und der ihm früher befreundet gewesene Student Z. Als Herr Z. zu vorgerückter Nachtstunde zufällig an dem Tisch vorbeiging, an welchem Herr S. mit mehreren Herren saß, rief S.: „Kellner, ein Bier!" Diesen Ausruf glaubte Herr Z. auf sich beziehen zu sollen und stellte Herrn S. in schroffer Form zur Rede. Obgleich Herr S. entschieden bestritt, daß er durch irgend eine Anzüglichkeit Herrn Z. habe verletzen wollen, wurde der letztere immer heftiger und vergriff sich tätlich an S. Daraufhin sah sich dieser gezwungen, Herrn Z. zu fordern. Am nächsten Morgen erstattete er seiner vorgesetzten Behörde von dem peinlichen Vorgang Meldung, gleichzeitig unterbreitete Herr S. als Officier des Beurlaubtenstandes die Angelegenheit dem Ehrenrat des zuständigen Landwehrofficiercorps. Der Zweikampf wird eingestellt, als beim einmaligen Kugelwechsel keiner der beiden Duellanten verwundet wird.

Im Novemberprogramm des Passage-Theaters gebührt die Palme des Erfolges zweifellos Loite Sivus. Die junge Dame ist eine etwas secessionistische Erscheinung, verfügt über eine kleine, aber sympathische Stimme und weiß durch einen fein pointierten Vortrag sofort zu interessieren. Doch eigenen sich ihre Vorträge mehr für das Überbrettl als für das Varieté, dem sie wohl bald abspenstig gemacht wird.

Falko Hennig

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