Ausgabe 10 - 2001 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Fetzen der Realität

Matthias Benner und Rainer Kleemann auf der „Werkschau 7"

Foto: Caroline Heni (Matthias Bender vor seiner Arbeit)

Gewellt, beschmutzt, eingerissen und mit Klebeband gekittet – Matthias Benner geht mit seinem Material nicht gerade sorgsam um. Die halbfertigen Bilder belagern den Boden in Atelier und Wohnung, und er begegnet ihnen auf diese Weise stets neu. Sobald etwas Ruhe eingekehrt ist, beginnt er zu verarbeiten, was ihn nicht mehr losläßt: „Meistens mache ich Skizzen, danach entstehen Fotos, danach zeichne und male ich." Nach und nach vollzieht sich die Aneignung der Fundstücke. In seinen Werken spiegelt sich dieser Prozeß wortwörtlich in der Vielschichtigkeit der Bilder. Bleistiftzeichnung und Farbe, mehrfach dick und grob aufgetragen, wechseln sich ab und addieren sich beinahe zum Relief. Da ist nicht nur ein Mädchen zu sehen, sondern eine ganze Reihe von kleinen Mädchen, die in- und übereinander geschoben im Bild mit dem Titel „Agnes F." ihren konkreten Ausdruck finden. Agnes F. mit ihrem grünen, bis zum Hals geknöpften Jäckchen, dem braven Mädchenrock und den Sandaletten mit zu hohen Absätzen, schaut derart verletzlich in die Augen ihres Betrachters, daß er sich schützend vor sie stellen mag. Ihr Gesicht wirkt seltsam erwachsen und erfahren. Es sind schmerzhafte Dinge, die in den ungleichen Augen und dem fest zusammengekniffenen Mund nicht ruhen. Unsicher steht sie auf papiernen, kraftlosen Beinen, klammert sich mit einer Hand an ein Geländer und hält vielleicht mit der anderen die Finger der Mutter. Doch das ist nur Vermutung, denn das Bild endet mit einem brüsken Riß; der rechte Arm ragt aus dem Bereich des Sichtbaren hinein in die Phantasie.

Die Beschaffenheit des Materials spielt in Benners Werken die Rolle des Gegenspielers. Es rauht den schwachen Mädchenkörper an, beschmutzt die Züge eines Kindes, das seiner Umgebung hilflos ausgeliefert ist. Das gesamte Bild wirkt wie der Teil eines Puzzles, ein Fetzen der Realität.

Eben solche Fetzen der Realität, wenn auch eher als Streifen zu bezeichnen, stellen die hochdynamischen Sekundenaufnahmen von Rainer Kleemann dar. Was dort abgebildet wird, ist nicht klar erkennbar. Vielleicht ein Turm, Lichter, die wie Flugobjekte vorbei schwirren, ein Geschäft und ein Paar, vereinzelt stehende Leitplanken. Ergriffen wird man vor allem von der Bewegung in „Format Pi Doppler": Man schaut auf eine Landschaft, die mit traditionellen Materialien (Öl auf Leinwand) errichtet wurde, aber an Computergrafik erinnert, und sieht unscharf nur Konturen. Trotz ihrer Dynamik, pendelt sich in diesen äußerst präzise gemalten Bildern ein Gleichgewicht ein. Die zweiteilige Komposition findet man in der Ausstellung mit anderen Werken des Künstlers zu einer Gesamtinstallation kombiniert. Zwei Plastiken in Form von eckigen Säulen erinnern an die erwähnten Leitplanken. Sie verleihen den Bildern zusätzliche Dynamik, da sie aus der Fläche in den Raum führen.

Matthias Benner und Rainer Kleemann ist es gelungen, ein Stück Wirklichkeit aufzuarbeiten, das in seiner materiellen Widersprüchlichkeit sein Gegenstück findet.

Mareike Layer

Die beiden Künstler sind auf der „Werkschau 7", einer Ausstellung im Rahmen der Künstlerförderung Berlin, in der Gustav-Meyer-Allee 25, Wedding noch bis zum 28.Oktober zu sehen. Der Eintritt ist frei.

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  Ausgabe 10 - 2001