Ausgabe 10 - 2001 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Sind wir alle Amerikaner?

Menschen aus Prenzlauer Berg über die neue Identifikation mit den USA

Als Peter Struck, der SPD-Fraktionsvorsitzende im Bundestag, am 12. September sagt: „Heute sind wir alle Amerikaner", ist der Schock über die Ereignisse ganz frisch. Der Satz bekommt erst in der zeitlosen Form „Wir sind alle Amerikaner" ähnliche Tragweite wie der bekannte Kennedy-Ausspruch „Ich bin ein Berliner". Er wird zu einer Metapher, die der Identifikation mit einer abstrakten Gemeinschaft dient, indem man diese als ein homogenes Wesen betrachtet. Aber wie homogen sind „die Berliner"? Für Ostdeutsche, die weder Marshallplan noch Rosinenbomber kannten, sei es nicht selbstverständlich, die „Teilnahme an neuerlichen US-Abenteuern zu akzeptieren", ist in einem Leserbrief an das Neue Deutschland zu lesen. Wie denken zufällig befragte Stadtbewohner (Ost) über ihr neues Dasein als „Amerikaner"?

Ein Rentner aus dem Umland: „In Berlin sind Amerikaner eine Kuchensorte, etwas Eßbares. So ein Amerikaner möchte ich nicht sein. Ein Ende durch Gefressenwerden wäre mir unangenehm. Die uneingeschränkte Unterstützung, welche unsere Regierung sofort nach den Anschlägen den USA zugesichert hat, läßt mich an die letzte Zeile einer Hymne denken, die mir vor 60 Jahren eingetrichtert wurde: ‚Führer befiehl, wir folgen dir.' Wenn wir den USA blindlings hinterherlaufen, kann das teuer für uns werden."

Ein Rundfunkmitarbeiter aus Prenzlauer Berg: „Wenn ich höre: ‚Wir sind alle Amerikaner', kann ich nur müde lächeln. Während vielleicht Leute aus dem Westen das wirklich verinnerlicht haben. Die sind am Wochenende danach mit der USA-Fahne ins Bundesligastadion gegangen. Auf diese Idee wäre ich nie gekommen. Das ist aber auch eine Generationssache. Zum Beispiel der jüngere Bruder meiner Frau, der hat gesagt: ‚Terroristen müssen ausgerottet werden. Da geh ich selber mit der Waffe los und meld mich nochmal freiwillig zur Bundeswehr.' Zur Wende war er 14, er hat also nicht mehr so viel von der DDR mitbekommen. Er hat bestimmt weniger Probleme, sich mit dem Satz zu identifizieren."

Ein Zeitungshändler am Helmholtzplatz: „Was Deutschland jetzt macht, ist eine einzige Arschkriecherei. In Hiroshima, Nagasaki, Bagdad und Belgrad hat es immer Unschuldige getroffen. Auch diesmal wird es wieder Unschuldige treffen."

Eine Studentin der Wirtschaftsinformatik (Lichtenberg): „Die Amerikaner sind Demagogen. Für den Kosovo-Krieg mußten die Menschenrechte als Rechtfertigung herhalten. Dieselben Menschenrechte sind aber für dieselben Leute kein Grund, um in Afghanistan einzugreifen. Wieviele Menschen in Afghanistan durch die Taliban sterben, interessiert niemanden. Niemand in Afghanistan möchte von den Taliban regiert werden. Mit militärischen Mitteln wird einzig erreicht, daß der Extremismus zunimmt. Das müßten gerade die Amerikaner wissen, die doch so bibeltreu sind."

Ein Mitarbeiter einer Werbeagentur (Mitte): „Amerika ist mir näher gekommen. Diese Katastrophe hat mich wirklich angegriffen. Frühere Anschläge fanden woanders statt, weit weg, da war nicht ich gemeint. Aber bei diesem habe ich plötzlich Angst gekriegt. Die Welt hat sich stärker polarisiert, es gibt nur noch erste und dritte Welt. Schrecklich ist, daß Differenzierungen verschwinden; die kleinen Unterschiede innerhalb des Westens sind nicht mehr so bedeutsam."

Je geringer die Differenzen der Offiziellen in Zeiten der Angst und Mobilmachung, je allgemeiner der „Schulterschluß" der Parteien, desto größer wird die Kluft zwischen öffentlicher (veröffentlichter) Meinung und den Anschauungen der Einzelnen.

Daß wir nun alle Amerikaner sein sollen, ist Teil der mentalen Mobilmachung eines sprachlosen Publikums, um dessen Zustimmung zu einem Geschehen zu erzeugen, auf das es selbst keinen Einfluß nehmen kann. Der Riß verläuft nicht etwa zwischen Ost und West. Er verläuft zwischen der Mehrheit, die keinen Krieg will, und einer im voraus verbreiteten Einheitsparole. Damit sich hinterher niemand beschwert.

Kai Pohl

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