Ausgabe 09 - 2001 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Neuköllner Nischen der Menschlichkeit

Ein Zeitungsladen als Keimzelle der Gesellschaft

Foto: Knut Hildebrandt

Als wir das erste Mal zu Achmed kommen, hat sein Laden geschlossen. Ein Flachbau in der Neuköllner Weserstraße mit den üblichen Zeitungsschildern: Berliner Kurier, Hör zu und Berliner Zeitung. Die Schaufensterauslage, die sonst eine Ansammlung verschiedenster Artikel feilbietet – von Kettenuhren, Pfeifen und Tischtennisbällen bis hin zu Turnschuhen und Tagesspiegelschirmkappen – ist von einem Rolladen verdeckt. Auf dem Fensterbrett sitzen drei Männer mit Schultheißbüchsen. „Sucht ihr Achmed?" fragt einer. „Der ist krank". Die drei wissen Bescheid, was Achmed hat, wie er zu erreichen ist und wann er wieder aufmacht.

Beim nächsten Versuch haben wir Glück. Der Rolladen ist hochgezogen. Achmed, 51-jährig, aus dem Iran stammend, steht hinter dem Ladentisch. Es ist zwei Uhr nachmittags. Gerade bekommt ein älterer Mann mit augenscheinlicher Schlagseite noch einen Sechserpack in die Hand gedrückt. „Geh jetzt nach Hause, Erich. Und vergiß nicht, demnächst Deinen Zettel zu bezahlen", sagt Achmed. Ein paar Kinder kaufen Wassereis zu zwanzig Pfennig, ein Artikel, der sehr gut geht. Kurze Zeit später schon betritt ein junger Mann das Geschäft und fragt nach Tabak. Er erwarte einen Scheck, murmelt er und bezahle übermorgen. Achmed sucht den verlangten Tabak heraus, erkundigt sich, ob der Kunde auch Blättchen benötige und wünscht ein schönes Wochenende. Achmed gibt oft Kredit. „Der Mensch, meine ich, muß Charakter haben", sagt er. „Ich bin für Menschlichkeit, egal ob Arbeitnehmer, Arbeitgeber, Präsident oder Polizist. Das ist meine Parole. Fragen mich die Leute, wo ich herkomme, sage ich: Iran. Aber in erster Linie bin ich Mensch." Mensch zu sein, sei wichtiger als Geld zu haben, Deutscher zu sein oder seinetwegen aus der Walachei zu kommen. Achmed heißt mit vollem Namen Golam-Ali Khaban. Den „Decknamen" Achmed trägt er seit der Zeit, als er im Iran gegen das Schahregime aktiv war. Damals hatte er begonnen, Medizin zu studieren, durfte das Studium wegen seiner politischen Umtriebe jedoch nie beenden und mußte schließlich aus dem Land fliehen. Nun lebt er schon seit dreißig Jahren in Deutschland. Seinen „Decknamen" aber hat er behalten. Seit dreizehn Jahren betreibt er nun seinen Laden in der Weserstraße. Nachdem er sich in der Anfangszeit in Deutschland mit verschiedensten Jobs über Wasser gehalten hatte, beschloß er irgendwann, sich selbstständig zu machen. „Hier nutze ich niemanden aus, und niemand nutzt mich aus", meint er. Das sei ihm wichtig. Über fünfzehn Stunden täglich steht er nun hinter seinen vielen Zeitungen und anderen Waren des täglichen Bedarfs. Denn Achmed besorgt alles, wonach hin und wieder Nachfrage besteht. So kann man bei ihm auch Untermietverträge, Anträge für die Meldestelle oder Musikkassetten mit Truckersongs kaufen. Etwa alle drei Minuten grüßt er jemanden, der draußen vorüber geht. „Tach, Frau Hoffmann, tach, mein Freund, schönes Wochenende." Achmed kennt fast alle in der Umgebung und von 90 Prozent seiner Kundschaft weiß er, was sie lesen und was sie rauchen. Die richtige Ware hat er oft schon in der Hand, bevor sein Kunde dazu kommt, den Mund aufzumachen.

Ein Mann im Blaumann betritt das Geschäft. Achmed freut sich. „Tach, Frank, hast du heute gearbeitet? Das ist ja schön! Gestern so..." ­ er macht eine vieldeutige Geste ­ „und heute schon wieder auf den Beinen. Bist du überhaupt schon wach?" Frank möchte Apfelkorn und bedauert, daß es nur den Sauren gibt, entscheidet sich schließlich für Mezzo Mix und nimmt an einem Tisch im hinteren Bereich des engen Ladenraums Platz. „Viele Leute leben hier sozusagen", erzählt Achmed. Manche von ihnen zieht er nebenbei mit durch, versorgt sie mit Kaffee, Schnaps und Schrippen. Frau Hoffmann zum Beispiel, die er „Mutter" nennt, bekommt bei ihm ihren Kaffee immer gratis. Auch Frank bestätigt sofort, Achmed sei wie ein Bruder für ihn, zu ihm könne er mit fast allem kommen. Deshalb sei er Stammgast. Aber Achmed wiegt bedenklich den Kopf. Früher hätte ihm seine Arbeit mehr Spaß gemacht, gibt er zu. In jüngster Zeit habe er doch von manchem „die Schnauze voll". Damit meint er sicher nicht Frank, der sich inzwischen wundert, warum es in seiner Ecke so nach Essig riecht. Eine Flasche mit fünfzehn Jahre altem Knoblauchessig sei vom Regal gefallen, wird er aufgeklärt. Ach so. Wenig Geld hätten die Leute in der Gegend schon früher gehabt, erzählt Achmed weiter. Inzwischen aber hätten sie überhaupt keines mehr. „Bei uns arbeitet kaum mehr jemand", sagt er. Den Anteil der arbeitenden Bevölkerung vor seiner Haustür schätzt er auf maximal 20 Prozent. Zu den offiziellen Arbeitslosen kämen die vielen Rentner. Die Zahlungsmoral seiner Kunden sei beim Teufel, beklagt Achmed. Anschreiben lassen habe er ja schon immer ­ solange die Schulden am nächsten Monatsanfang beglichen würden, gehe die Sache für ihn in Ordnung. Das aber ist seit langem nicht mehr die Regel. Und er selbst steht mitunter bei seinen Lieferanten in der Kreide.

Der Wendepunkt, nach dem sich alles zum Schlechteren gekehrt hat, ist für Achmed die Wiedervereinigung. Aus seiner Sicht hat Deutschland zwei Gesichter: das Gesicht der „Epoche" davor und das danach. Nach der Vereinigung sei die Arbeit in der Industrie weggebrochen. Nach dem Ende der Berlin-Förderung „sind die alle nach Polen oder sonst wohin verlagert worden. Und hier bekommen die Leute nur noch ein paar Mark vom Arbeitsamt", resümiert Achmed. Frank ist mit ihm einer Meinung. Er ist in Neukölln aufgewachsen und als Gas-Wasser-Installateur arbeitslos. Nebenbei macht er ein bißchen Schwarzarbeit.

Aber es sei nicht nur das Geld, das fehlt. Achmed sucht nach Worten. Vor der Wende kannte er die Leute sehr gut, sagt er. Er wußte sie einzuschätzen, jeden, der kam, auch Fremde. Er wußte sogar, welche Tageszeitung sie wahrscheinlich kaufen würden. Heute hätten sich die Grenzen verwischt. „Da kommt einer, sieht aus wie ein Penner, kann ein Unternehmer sein ­ kann auch umgekehrt sein", sagt er. Vielleicht würden die Deutschen noch durchblicken. Er jedenfalls nicht mehr. Und es habe viel „Hin und Her" gegeben seitdem. „Die Ossis kommen her, andere gehen." Was für Leute das aus dem Ostteil seien? „Alles dabei, vom Arbeiter bis zum Trinker, aber Reiche jedenfalls nicht", schätzt Achmed.

Ein türkisch aussehender Junge unterbricht Achmeds Überlegungen. „Achmed, ich habe dir ein bißchen Kleingeld mitgebracht!" ruft er, schüttet einen Haufen Groschen auf den Ladentisch und möchte in höherem Wert Zigaretten haben. Achmed stützt sich auf den Ladentisch. „Goran, hör mal, kommst du eigentlich nur, wenn du Schwierigkeiten hast, oder kommst du auch mal so?" Goran versichert, er komme auch so. Achmed wirft seufzend den Groschenhaufen in seine Kasse.

Wer eine Weile lang in Achmeds Laden sitzt, gewinnt den Eindruck, daß hier alles mögliche zirkuliert, am Rande auch ein bißchen Geld – aber nicht in erster Linie. Eine von Achmeds Ideen, deretwegen man ihn schätzt, ist zum Beispiel die, hin und wieder Wohngemeinschaften zusammenzubringen. Manche seiner Kunden haben zu große und zu teure Wohnungen, andere stehen mit einem Bein auf der Straße. Praktische Hilfe organisiert er auch, wenn jemand wieder mal die Tür hinter sich zugezogen hat, ohne den Schlüssel mitzunehmen. Achmed kennt Leute, die das Problem professionell lösen können. Manchmal halten sie sich sogar zufällig im Laden auf. „Bestellst du den Schlüsseldienst, bezahlst du drei- bis vierhundert Mark, eine Summe die man sparen kann", meint er.

Für Frank ist Achmeds Zeitungsladen ein Treffpunkt. In Kneipen geht er, wie viele in der Gegend, kaum mehr. Mit Achmed und den anderen könne er über eine ganze Menge reden. „Das ist besser als den ganzen Tag zu Hause herumzusitzen und in den Fernseher zu gucken", sagt er: „Das ist Achmed für mich."?

Tina Veihelmann/Dirk Rudolph

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