Ausgabe 09 - 2001 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Yuppies erobern den Wedding

Wehret den Anfängen!

Im Wedding hat eine neue Gaststätte eröffnet. Das wäre im Grunde nicht weiter der Erwähnung wert, wenn die beiden Betreiber Olaf Fehrmann und Jörg Müller dies nicht mit einer Kampfansage an den Kiez verbunden hätten.

Ihre neue „Café-Bar-Lounge" namens „Schraders" soll eine „Aufbruchsvision" erzeugen und so eine „Aufwertung des ganzen Stadtteils" herbeiführen. Das klingt zwar reichlich großspurig, trotzdem kommen einem die mahnenden Worte unseres vermutlich einzigen Weddinger Lesers in der letzten Ausgabe in den Sinn. Der Einfall Milchkaffee schlürfender Zeitgenossen in die proletarische Bastion scheint allerdings nicht, wie er mutmaßt, in der Triftstraße seinen Anfang zu nehmen – die hatte in den achtziger Jahren ohnehin schon einmal bessere Zeiten gesehen – sondern in der Malplaquetstraße, Ecke Amsterdamer Straße, unweit der ehemaligen Osram-Werke an der Seestraße.

In den Visionen der sendungsbewußten Kneipiers sollen besonders die Plätze im Viertel wiederbelebt werden. Das klingt einigermaßen ignorant und erinnert unangenehm an die Aussagen der Pioniere in der Oranienburger Straße. Die Straßen und Plätze hier sind keineswegs tot, nur werden sie zum größten Teil kostenlos genutzt. Straßencafés mit gediegenem Ambiente trifft man tatsächlich eher selten an. Stattdessen lassen sich viele, höchstwahrscheinlich nicht gewinnorientierte Treff-punkte unterschiedlicher Art finden. An einem Ort versammeln sich die Anhänger von Fehnerbahçe Istanbul, an einem anderen betrinkt sich der deutschstämmige Klischeeweddinger mit seiner Familie. Als Außenstehenden beschleicht einen leicht das Gefühl, in fremde Wohnzimmer einzudringen.

In der sich sehr treffend „Zum Süffel" nennenden Kaschemme gegenüber dem Schraders muß derjenige den Wirt spielen, der sich am schlechtesten wehren kann. Hier kennen sich alle schon seit Jahren, und es schneien durchgehend Menschen herein, die kurz ein paar Worte wechseln und ein paar Bier kippen. Wer sich an die Theke setzt, wird schnell integriert und hat es schwer, unter zwei Promille wieder herauszukommen. Auf dem Platz direkt vor dem Schraders kommt man ganz ohne Wirt aus. Hier hat das Bezirksamt Bänke und ein efeuberanktes Drahtgestell aufstellen lassen, unter dem tagsüber bei gutem Wetter einiger Betrieb herrscht. Bei Lichte betrachtet, tun die Nutzer der Bezirksamtsidylle hier nichts anderes als die Gäste, die an den schicken Cafétischen zwei Meter daneben den Weddinger Flaneuren zusehen: Sie trinken.

Dringt man nun ins Innere der etwas unentschieden als „Café-Bar-Lounge" bezeichneten Gaststätte vor, erinnert nicht mehr viel an die Umgebung. Höchstens auf den ersten Blick können die vielen alten Möbel zu Verwechslungen mit einem der vielen Wohnungsauflösungsläden in der Gegend führen. Spätestens der zweite Blick muß dann feststellen, daß das Schraders auf keinen Fall eine Bar ist. Der Tresen erinnert eher an eine Eisdiele und davor stehen noch nicht einmal Barhocker. Es handelt sich hier vielmehr um ein Café, ein schön eingerichtetes sogar. Die Atmosphäre ist im Vergleich zum Süffel oder zum türkischen „Café Okay" ein paar Meter weiter völlig anonym. Gleichzeitig ist es die einzige Wirtschaft im Kiez, in der deutlich mehr Frauen als Männer sitzen. An den Gästen erkennt man aber schließlich doch, daß man im Wedding ist und nicht am Kollwitzplatz. Ortsfremde verirren sich nicht hierhin. Deshalb kann man eigentlich einigermaßen beruhigt darauf vertrauen, daß das Schraders schon einweddingt mit der Zeit. Dann hört die Tresenkraft hoffentlich auch auf, einem in unterwürfiger Manier ständig irgendetwas zum Knabbern anzudrehen.

Dirk Rudolph

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