Ausgabe 09 - 2001 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Aus der Traum?

Welche Zukunft hat das Friedrichshainer Paralleluniversum?

Gut zwei Jahre ist es her, daß sich auf dem Gelände des ehemaligen Reichsbahnausbesserungswerks das selbsternannte „Paralleluniversum in der Pionierphase" herauskristallisierte, verborgen hinter einer Backsteinmauer an der Revaler Straße. Gemeint ist der RAW-Tempel, in der Revaler Straße 99, erreichbar nur durch das Tor Nr. 1. Auf einem Teilstück des seit 1994 brachliegenden Geländes konnte sich während der vergangenen zwei Jahre in der einzigartigen Atmosphäre eines in sich ruhenden Industriegebiets diese eigene Welt entwickeln. Belebt wurde sie von dreißig dort ansässigen Vereinen.

Für die Entwicklung des Paralleluniversums auf dem RAW-Gelände war vor allem eines wichtig: Freiraum, und zwar in zweifacher Hinsicht. Zum einen räumlich in Form von Freiflächen und einem Ensemble von vier maroden, aber denkmalgeschützten Industriegebäuden. Zum anderen gab es einem gewissen „ordnungspolitischen" Freiraum. Gemeint ist ein Zeitraum von zwei Jahren, in denen sich weitestgehend unabhängig von den sonst üblichen Normen und finanziellen Zwängen eine Insel der Kunst- und (Sub-)Kulturszene in Friedrichshain entwickeln konnte. In Mitte und Prenzlauer Berg mußten ähnliche Projekte längst „gewinnoptimalen Verwertungsmöglichkeiten" weichen. Leider erfolgt diese Gewinnoptimierung oft nicht im Hinblick und mit Rücksichtnahme auf das jeweilige Stadtgebiet, sondern bezieht sich lediglich auf die kurzsichtige Verfolgung hauptsächlich finanzieller Interessen.

Der RAW-Tempel in Friedrichshain ist noch eine der wenigen Inseln in der Stadt, wo sich etwas Einzigartiges, Unkonventionelles entwickeln konnte, das in dieser Form nicht „künstlich" ge-schaffen werden kann.

Doch wie bei anderen Parallelwelten, steht auch die Zukunft des RAW-Universums in den Sternen. Wird es sich weiter ausdehnen oder kollabiert es und verschwindet in einem schwarzen Loch?

Nach der Pionierphase steht diese neue Welt nun vor der Herausforderung, ihren weiteren Fortbestand zu sichern. Die Deutsche Bahn AG als Eigentümerin der Fläche drängt auf eine zeitnahe, marktgerechte Verwertung. Mit dieser Aufgabe wurde die Vivico Management GmbH betraut, deren erste Planungen die Frage aufwerfen, inwieweit es zukünftig für soziokulturelle Nutzungen noch Platz auf dem Areal gibt. Laut eines Gutachtens, das im Auftrag des Eigentümers erstellt wurde, hängt die Wirtschaftlichkeit des gesamten Projektes vom späteren „Nutzungsmix" ab. Von den vorgesehenen 200000 m2 vermarktbarer Geschoßfläche entfallen rund 50 Prozent auf Dienstleistungen (sprich: Büroflächen), 20 Prozent auf Freizeitnutzungen, 10 Prozent auf Wohnnutzung und noch einmal 15 Prozent auf Fach- und Einzelhandel. Letzere sollen in Form eines Einkaufzentrums in S-Bahn-Nähe, an der Warschauer Straße, gebündelt werden.

Kulturnutzungen werden auch in Betracht gezogen. Solange diese sich wirtschaftlich rechnen, sind sie als Imageträger für das Geländemarketing sogar gern gesehen. Die Neuplanungen für das RAW-Gelände gehen Ende September in eine neue Runde. Mit einer Geländebegehung durch drei Architekturbüros wird ein städtebaulicher Wettbewerb angestoßen, in dessen Rahmen Entwürfe für die Nachnutzung des insgesamt 100000 m2 großen Geländes entwickelt, und die Nutzungsvorstellungen von Eigentümer und Kommune konkretisiert werden sollen.

Foto: Mirko Zander

Parallel zu den Planungen der drei von Vivico beauftragten Architekturbüros wurde von workstation e.V., einem Projektpartner des RAW-Tempel e.V. ein offener Ideenaufruf gestartet. Unter dem Motto: „RAW ist machbar, Herr & Frau Nachbar!" beteiligt der Verein sich und interessierte Bürger mit Hilfe von Ideenwerkstätten konstruktiv an dem städtebaulichen Wettbewerb.

„Es macht keinen Sinn, gegen den Eigentümer zu planen, sondern der Ideenaufruf ist eine Chance, neue Konzepte zu erstellen" meint der Architekt Christian Mika, der den Ideenaufruf ehrenamtlich betreut. Zu diesem Zweck war am 16. September der erste von drei Terminen für „Kiez Werk Stadt" anberaumt. Eine Veranstaltungsreihe, auf der über den aktuellen Stand der Entwicklung informiert und alternative Ideen für das ehemalige Werksgelände entwickelt wird. Eingeladen ist jeder, der ein Interesse an der Zukunft des RAW-Geländes hat.

Der derzeitige Mietvertrag, mit dem Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg als Mieter der Flächen, läuft vorerst noch bis zum Sommer 2002. Voraussetzung für den Verbleib soziokultureller Nutzungen, wie dem RAW-Tempel e.V. auf dem Gelände ist es, daß der Eigentümer anerkennt, daß der RAW-Tempel eine echte Bereicherung der Kulturszene ist, mit einem ähnlichen Potential wie beispielsweise die Ufa-
Fabrik in Tempelhof oder das Tacheles in Mitte. Denn neben den unter Denkmalschutz stehenden Gebäuden ist auch die Kulturstätte RAW-Tempel, als Relikt der langsam verschwundenen Berliner Subkultur, mindestens ebenso erhaltenswert.

Martin Koch

IDEENAUFRUF ­ Kiez Werk Stadt : Sonntag, 16. September, 14-18 Uhr,
Revaler Straße 99, 10245 Berlin,
fon 29365828, rawideen@freenet.de

RAW-Tempel e.V., fon 2924695,
mail: info@raw-ev.de,
www.raw-ev.de

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