Ausgabe 08 - 2001 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Gruß vom Aussichtsturm

Ein Gespräch über das getrennte Erinnern an die Berliner Mauer

Die Mauer war Berlins begehrtestes Fotomodell, solange sie stand – und ist es erst recht nach ihrem Fall 1989. Dabei zeigten fast alle Aufnahmen dasselbe: Das Stadtzentrum westseits an der Mauer, das westliche Geschichtsbücher längst als Symbole kanonisierten, das Brandenburger Tor, der Reichstag, der Grenzübergang Friedrichstraße. An der Ostseite galt Fotoverbot. In der Überlieferung fehlen weitgehend die Erinnerungen der Bewohner – jenseits der Ansichten vom Ausnahmezustand an der Mauer, von verblutenden Flüchtlingen, Grenzsoldaten, die über den Stacheldraht springen oder Panzern am Checkpoint Charlie .

Matthias Hoffmann, ein junger Politologe, hat zwischen 1984 und 1989 als Wilmersdorfer Oberschüler die gesamte Berliner Grenze an ihrer Westseite abgelaufen. Damals nur ein Fotoprojekt, hat er die rund 500 Aufnahmen jetzt ins Internet gestellt. Geordnet nach Straßen und Bezirken, sollen sie der Kern eines offenen Archivs der Alltagserinnerung werden. Besucher der Seite können zu jedem Foto ihre Gedanken aufschreiben, Stadttouren mit Erklärungen zur Mauer können ausgedruckt werden. Bis Mitte August hatte die Seite allein schon 25000 Besucher. Mit Matthias, dem 32jährigen gebürtigen Westberliner, unterhielt sich der 31jährige Ostberliner Peter Burger über die frühere Grenze.

Matthias: Daß die Erinnerung verloren geht, sehe ich an meiner elfjährigen Nichte. Sie weiß von der Mauer nur: „Da gab es mal ein anderes Land, und die Stadt war irgendwie geteilt". Erinnerungsorte wie die East-Side-Gallery, die Gedenkstätte Bernauer Straße und das Museum am Checkpoint Charlie zeigen nur einen Ausschnitt davon. Meine Freundin und ihre Bekannten aus dem Osten sagen, daß die dortige Dramatik, Tränendrüsen- und Opfer-Rhetorik gar nicht ihrem eigenen Erleben entspricht.

Peter: Mich machten die Mauerschilderung in der alten Bundesrepublik und nach der Vereinigung oft wütend, weil ich mich benutzt fühle für die große Heldenmär vom standhaften westlichen Bündnis. Inzwischen merke ich die Einseitigkeit oft nicht mehr, weil auswärtige Freunde mich ins Mauermuseum bringen und ich mich an das beschränkte Bild gewöhne.

Es fehlt auch eine Beschreibung, wie die Mauer auf Westberlin wirkte. Was für viele dort die Furcht bedeutete, man könne eines Tages nicht mehr aus der Insel heraus. Mein großer Bruder war am Tag des Mauerbaus gerade bei unseren Verwandten im Oderbruch, da kam er, ein Kleinkind, erst zwei Tage später wieder nach Hause. Meine Mutter und viele aus der Nachkriegsgeneration hat so etwas geprägt. Deshalb reagieren sie heute gereizt, wenn die PDS Chancen zum Regieren bekommt. Westberlin erlebte durch die Mauer seltsame Erscheinungen wie die „Senatsreserve": Da wurde vom Fahrrad bis zum Rindfleisch alles gehortet, damit Westberlin im Notfall überlebt. Was unbrauchbar wurde, ging zum Sonderpreis raus. Die Fleischdosen waren so köstlich, daß ich sie gleich kalt gegessen habe. Ähnlich abstrus war auch die alliierte Meldekette: Eines meiner Fotos zeigt die Auto-Bremsspuren eines Mannes, der sich wegen Liebeskummer umbringen wollte und dazu frontal gegen die Mauer fuhr. Da stand ein Westberliner Polizist daneben, aber er durfte nicht helfen. Erst mußten die Ostberliner Volkspolizisten ran, dann die Engländer, die holten endlich den Krankenwagen. Daß der Mann für seinen Tod die Mauer wählte, zeigt, wie sehr die Leute sie als Symbol verstanden. Doch gehörte sie auch zum Alltag. Kinder haben gegen die Mauer Fußball gespielt, manche Leute bauten Gärten, Garagen oder Pferdeställe daran. Als ich meiner Freundin die Fotos zeigte, war sie überrascht und sagte: „Uns war gar nicht klar, wie dicht ihr an die Mauer kamt."

Wer im Osten nahe der Grenze lebte, kam schon dicht heran. Ich wohnte lange in der Brunnenstraße, 200 Meter vor der Mauer. Da mußten wir eben einen Ausweis mitnehmen, wenn wir in der grenznächsten Straße spazierengehen wollten. Seltsam und albern war nur, wenn das Gespräch gerade von arglosem Schulkram handelte und plötzlich ein Posten prüfte, ob du kein Flüchtling oder Spion bist. Unsere Fenster gingen genau auf den verschlossenen U-Bahnhof Bernauer Straße. Da sahen wir täglich, wie ein grüngrauer Trabant-Jeep mit zwei Soldaten heranfährt, sie mit leichtem Klicken die Gewehre entsichern, das Gitter zum U-Bahnhof aufschließen und im Tunnel verschwinden. Jedes Mal malte man sich aus, was die Soldaten da wohl sehen. Oder was passiert, falls ein Passagier aus einem U-Bahnwagen springt. Es war ja eine Westlinie, sie fuhr vom Kreuzberger Moritzplatz ohne Halt unter dem Ostberliner Zentrum durch bis zur Voltastraße im Wedding. Im Haus gab es ein kleines, dunkles Kellergewölbe für kaputte Stühle und Schränke. Das grenzte genau an den U-Bahn-Schacht, man hörte die Züge. Die trennenden Ziegel hätte ich oft gern weggegraben. Zugleich wollte ich gar nicht weg. Für mich waren Ost- und Westberlin zwei Städte, Westberlin entfernter als Wladiwostok.

Meine Freundin spürte die Nähe immer durch die Häuser der Gropiusstadt gegenüber dem Plänterwald.

Ich habe auch den Wedding, das Märkische Viertel oder das Springer-Hochhaus gesehen. Außerdem hatte meine Mutter Verwandte in Westberlin, die regelmäßig zu uns kamen, und sie erzählte, wie sie selbst bis 1961 in den Westen ins Kino, an den Wannsee oder zu Besuch ging. Und trotzdem begriff ich die Nähe erst, als ich einmal einen SPD-Wahlkampfwagen im Wedding verstand. Zugleich sah ich die Grenze als eine Tatsache der Geschichte wie andere. Nur das Reiseverbot empfand ich als große Dummheit, Anmaßung und Selbsterniedrigung der DDR-Regierung – weil sie mir und anderen nicht zutraute, nach Westbesuchen zurückzukehren. Dabei wollte ich zu Hause etwas bewegen, nicht durch Ausreise. Ich fragte mich oft, was den Westberlinern die Selbstgewißheit gab, so mitleidig auf den Osten zu gucken. Es wirkte hochmütig und verletzend, wenn sie auf die Aussichtstürme auf der Westseite der Mauer stiegen – einer davon stand an der Ecke Oderberger/Eberswalder Straße – und uns von oben herab zuwinkten. Als ob sie in ein Affengehege blicken oder, wie eine Freundin sagt: auf den Ossi-Zoo. Der Landkarte nach waren sie die Eingesperrten, und für mich waren andere Dinge wichtiger als die Mauer.

Das hat mir auch meine Freundin erzählt. Für mich war das Winken nur ein „Hallo", ein Gruß mit dem Gefühl: Wir sind doch eine Stadt. Erst mit dem Kosovo-Krieg verstand ich, daß man eine Stadt tatsächlich in Sektoren teilen kann. Ich fühlte mich in Westberlin auch nicht eingesperrt. Als Schuljunge hat man einen kleineren Lebensradius, wir hockten in Wilmersdorf, das reichte uns. Außerdem konnten wir über die Transitrouten stets in den Westen und in den Osten zu fahren, war nur ein Geldproblem: 25 D-Mark pro Tag für den Zwangsumtauschsatz besaß ich als Schüler nicht. Einmal im Monat fuhr ich aber mit dem Geld meiner Mutter. Davon kaufte ich Bücher und ORWO-Filme, da sind auch meine Mauer-Fotos drauf. Zugleich fühlten wir uns weit weg von der Bundesrepublik. Fuhren wir dorthin, nannten wir das „Wessiland". Ich war sehr betroffen, als ich nach 1989 plötzlich selbst „Wessi" hieß.

Das war wohl logisch. Die Strukturen Westberlins und der Bundesrepublik waren fast identisch, und aus ihren Verbindungen entstanden sofort gemeinsame Lobbies. Sie haben das Geschichtsbild nach der Vereinigung geprägt, auch schnellstmöglich die Mauerzeit aus dem Stadtbild verdrängt.

Aus der Euphorie heraus hätte ich mich 1989 wohl auch für den kompletten Abriß der Mauer entschieden. Aber es war falsch, weil dadurch unmöglich wurde, sich den Bau und seine Wirkung vorzustellen. 1989 hofften alle, den Vorkriegszustand wiederherzustellen. Aber die Zeit war weiter gegangen. Mir scheint, daß gerade unsere Altersgruppe Glück hatte: Für die damals 40jährigen im Osten, die schon Eingerichteten, war die Wende ein herber Bruch. Unsere Generation aber hat, anders als die nächste, noch die Ausnahmezeit erlebt und sieht jetzt die Normalität. Wir können unsere Schlüsse daraus ziehen.

Dazu müßte die Erinnerung aus beidem genutzt werden. Noch aber breitet sich in Berlin, etwa mit dem Wiederaufbau des Schlosses und anderer Gebäude, der Traum von der ungeschehenen Geschichte weiter aus.

Was mich an der Mauer interessiert: Wer war es, der zuerst ausgesprochen hat: „Laßt uns doch um Westberlin eine Mauer bauen!" und was ging in seinem Kopf vor?

Matthias Hoffmanns Fotoarchiv im Netz:
www.mauerfotos.de

Noch bis zum 7. September sind 50 Fotos aus der Sammlung im Rathaus Wilmersdorf, Fehrbelliner Platz 4, zu sehen.

Fotos: Matthias Hoffmann

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